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Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.

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§. 61. Jn besonderer Rücksicht auf die Beschaffenheit pkl_041.002
der reimenden und der denselben folgenden pkl_041.003
Silben erhalten die Reime verschiedene Eintheilungen pkl_041.004
und Benennungen. Jn der bei weitem größten pkl_041.005
Zahl deutscher Gedichte hat man es in dieser Beziehung pkl_041.006
nur mit männlichen und weiblichen Reimen zu pkl_041.007
thun. Männlich oder stumpf heißt der Reim, pkl_041.008
wenn er lediglich von betonten Silben gebildet wird, -- pkl_041.009
z. B. Ohr und Rohr, Glanz und Kranz, er- pkl_041.010
scheint und geweint, -- weiblich, wenn auf die pkl_041.011
reimenden betonten Silben noch eine übereinstimmende pkl_041.012
tonlose folgt, z. B. geboren, verloren; glänzen, pkl_041.013
kränzen.
Treten nach der betonten Reimsilbe noch pkl_041.014
zwei übereinstimmende tonlose Silben ein, so nennt pkl_041.015
man den Reim gleitend, z. B. Geborener, Ver- pkl_041.016
lorener; Bekränzende, glänzende. Der Charakter pkl_041.017
unserer Sprache erschwert die Anwendung dieses pkl_041.018
Reimes, besonders wenn er als Endreim auftreten pkl_041.019
soll; wo er aber ungezwungen sich findet, -- meist nur in pkl_041.020
kürzern Versen -- ist er gewöhnlich von schöner Wirkung. pkl_041.021
-- Schwebend wird der Reim genannt, wenn pkl_041.022
auf die reimende volltonige Silbe noch eine mitteltonige pkl_041.023
folgt, z. B. kraftvoll, saftvoll; Bereitung, Zeitung. pkl_041.024
Der schwebende Reim wurde bisher selten absichtlich pkl_041.025
und selbstständig angewendet, gewöhnlich geht er als pkl_041.026
weiblicher Reim mit durch, obgleich er offenbar von pkl_041.027
demselben sich durch größere Kraft unterscheidet. Doppelt-gereimte pkl_041.028
Spondeen,
wie "Märzschnee," pkl_041.029
"Herzweh," -- "Jagdspeer," "Schlachtheer," stören pkl_041.030
noch mehr, wo sie als weibliche Reime auftreten wollen; pkl_041.031
mit Absicht als besondere Reimgattung gebraucht,

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§. 61. Jn besonderer Rücksicht auf die Beschaffenheit pkl_041.002
der reimenden und der denselben folgenden pkl_041.003
Silben erhalten die Reime verschiedene Eintheilungen pkl_041.004
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Zahl deutscher Gedichte hat man es in dieser Beziehung pkl_041.006
nur mit männlichen und weiblichen Reimen zu pkl_041.007
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tonlose folgt, z. B. geboren, verloren; glänzen, pkl_041.013
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Treten nach der betonten Reimsilbe noch pkl_041.014
zwei übereinstimmende tonlose Silben ein, so nennt pkl_041.015
man den Reim gleitend, z. B. Geborener, Ver- pkl_041.016
lorener; Bekränzende, glänzende. Der Charakter pkl_041.017
unserer Sprache erschwert die Anwendung dieses pkl_041.018
Reimes, besonders wenn er als Endreim auftreten pkl_041.019
soll; wo er aber ungezwungen sich findet, — meist nur in pkl_041.020
kürzern Versen — ist er gewöhnlich von schöner Wirkung. pkl_041.021
Schwebend wird der Reim genannt, wenn pkl_041.022
auf die reimende volltonige Silbe noch eine mitteltonige pkl_041.023
folgt, z. B. kraftvoll, saftvoll; Bereitung, Zeitung. pkl_041.024
Der schwebende Reim wurde bisher selten absichtlich pkl_041.025
und selbstständig angewendet, gewöhnlich geht er als pkl_041.026
weiblicher Reim mit durch, obgleich er offenbar von pkl_041.027
demselben sich durch größere Kraft unterscheidet. Doppelt-gereimte pkl_041.028
Spondeen,
wie „Märzschnee,“ pkl_041.029
„Herzweh,“ — „Jagdspeer,“ „Schlachtheer,“ stören pkl_041.030
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[41/0067] pkl_041.001 §. 61. Jn besonderer Rücksicht auf die Beschaffenheit pkl_041.002 der reimenden und der denselben folgenden pkl_041.003 Silben erhalten die Reime verschiedene Eintheilungen pkl_041.004 und Benennungen. Jn der bei weitem größten pkl_041.005 Zahl deutscher Gedichte hat man es in dieser Beziehung pkl_041.006 nur mit männlichen und weiblichen Reimen zu pkl_041.007 thun. Männlich oder stumpf heißt der Reim, pkl_041.008 wenn er lediglich von betonten Silben gebildet wird, — pkl_041.009 z. B. Ohr und Rohr, Glanz und Kranz, er- pkl_041.010 scheint und geweint, — weiblich, wenn auf die pkl_041.011 reimenden betonten Silben noch eine übereinstimmende pkl_041.012 tonlose folgt, z. B. geboren, verloren; glänzen, pkl_041.013 kränzen. Treten nach der betonten Reimsilbe noch pkl_041.014 zwei übereinstimmende tonlose Silben ein, so nennt pkl_041.015 man den Reim gleitend, z. B. Geborener, Ver- pkl_041.016 lorener; Bekränzende, glänzende. Der Charakter pkl_041.017 unserer Sprache erschwert die Anwendung dieses pkl_041.018 Reimes, besonders wenn er als Endreim auftreten pkl_041.019 soll; wo er aber ungezwungen sich findet, — meist nur in pkl_041.020 kürzern Versen — ist er gewöhnlich von schöner Wirkung. pkl_041.021 — Schwebend wird der Reim genannt, wenn pkl_041.022 auf die reimende volltonige Silbe noch eine mitteltonige pkl_041.023 folgt, z. B. kraftvoll, saftvoll; Bereitung, Zeitung. pkl_041.024 Der schwebende Reim wurde bisher selten absichtlich pkl_041.025 und selbstständig angewendet, gewöhnlich geht er als pkl_041.026 weiblicher Reim mit durch, obgleich er offenbar von pkl_041.027 demselben sich durch größere Kraft unterscheidet. Doppelt-gereimte pkl_041.028 Spondeen, wie „Märzschnee,“ pkl_041.029 „Herzweh,“ — „Jagdspeer,“ „Schlachtheer,“ stören pkl_041.030 noch mehr, wo sie als weibliche Reime auftreten wollen; pkl_041.031 mit Absicht als besondere Reimgattung gebraucht,

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Zitationshilfe: Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/67>, abgerufen am 30.04.2024.