Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.sich nicht viel mit dem Antwortertheilen ab; zudem "wiederholte" er nur mit dem Knaben und hatte ihn bereits in früheren Stunden über "Alles" aufgeklärt, was nur irgend einen dunklen Sinn hatte! Ein Satz war es wieder, der Josseph's Aufmerksamkeit in hohem Grade weckte und alle seine Sinne wie mit brennenden Nesseln aufjagte. In seinen Abschiedsworten an die Stämme Israels sagt Moses zu Lewi: Wer zu seinem Vater und zu seiner Mutter spricht: ich sehe dich nicht; und zu seinem Bruder: ich kenne ihn nicht; und zu seinem Sohne: ich weiß nichts von ihm; die halten deine Rede und bewahren deinen Bund. Josseph mußte sich mit beiden Händen an der Wand stützen, so bewältigend wirkten diese Worte auf ihn. Konnte man ihm deutlicher Recht geben, als es hier Gott und in dessen Namen sein Prophet selbst that? In der Stube war wieder eine bedeutsame Stille eingetreten. In Josseph's Herzen hätte man den auf und nieder steigenden Strom der Blutwellen vernehmen und den Schlag des fiebernden Pulses erlauschen können. Ihm schien die ganze Natur mit Allem, was darin leibt und lebt, auf eine Antwort, auf eine Lösung aus dem Munde des Lehrers zu harren. Lehrer, begann der Knabe, das versteh' ich nicht. Welches Kind wird denn zu seinem Vater oder zu sich nicht viel mit dem Antwortertheilen ab; zudem „wiederholte“ er nur mit dem Knaben und hatte ihn bereits in früheren Stunden über „Alles“ aufgeklärt, was nur irgend einen dunklen Sinn hatte! Ein Satz war es wieder, der Josseph's Aufmerksamkeit in hohem Grade weckte und alle seine Sinne wie mit brennenden Nesseln aufjagte. In seinen Abschiedsworten an die Stämme Israels sagt Moses zu Lewi: Wer zu seinem Vater und zu seiner Mutter spricht: ich sehe dich nicht; und zu seinem Bruder: ich kenne ihn nicht; und zu seinem Sohne: ich weiß nichts von ihm; die halten deine Rede und bewahren deinen Bund. Josseph mußte sich mit beiden Händen an der Wand stützen, so bewältigend wirkten diese Worte auf ihn. Konnte man ihm deutlicher Recht geben, als es hier Gott und in dessen Namen sein Prophet selbst that? In der Stube war wieder eine bedeutsame Stille eingetreten. In Josseph's Herzen hätte man den auf und nieder steigenden Strom der Blutwellen vernehmen und den Schlag des fiebernden Pulses erlauschen können. Ihm schien die ganze Natur mit Allem, was darin leibt und lebt, auf eine Antwort, auf eine Lösung aus dem Munde des Lehrers zu harren. Lehrer, begann der Knabe, das versteh' ich nicht. Welches Kind wird denn zu seinem Vater oder zu <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="7"> <p><pb facs="#f0109"/> sich nicht viel mit dem Antwortertheilen ab; zudem „wiederholte“ er nur mit dem Knaben und hatte ihn bereits in früheren Stunden über „Alles“ aufgeklärt, was nur irgend einen dunklen Sinn hatte!</p><lb/> <p>Ein Satz war es wieder, der Josseph's Aufmerksamkeit in hohem Grade weckte und alle seine Sinne wie mit brennenden Nesseln aufjagte. In seinen Abschiedsworten an die Stämme Israels sagt Moses zu Lewi:</p><lb/> <p>Wer zu seinem Vater und zu seiner Mutter spricht: ich sehe dich nicht; und zu seinem Bruder: ich kenne ihn nicht; und zu seinem Sohne: ich weiß nichts von ihm; die halten deine Rede und bewahren deinen Bund.</p><lb/> <p>Josseph mußte sich mit beiden Händen an der Wand stützen, so bewältigend wirkten diese Worte auf ihn. Konnte man ihm deutlicher Recht geben, als es hier Gott und in dessen Namen sein Prophet selbst that?</p><lb/> <p>In der Stube war wieder eine bedeutsame Stille eingetreten.</p><lb/> <p>In Josseph's Herzen hätte man den auf und nieder steigenden Strom der Blutwellen vernehmen und den Schlag des fiebernden Pulses erlauschen können. Ihm schien die ganze Natur mit Allem, was darin leibt und lebt, auf eine Antwort, auf eine Lösung aus dem Munde des Lehrers zu harren.</p><lb/> <p>Lehrer, begann der Knabe, das versteh' ich nicht. Welches Kind wird denn zu seinem Vater oder zu<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0109]
sich nicht viel mit dem Antwortertheilen ab; zudem „wiederholte“ er nur mit dem Knaben und hatte ihn bereits in früheren Stunden über „Alles“ aufgeklärt, was nur irgend einen dunklen Sinn hatte!
Ein Satz war es wieder, der Josseph's Aufmerksamkeit in hohem Grade weckte und alle seine Sinne wie mit brennenden Nesseln aufjagte. In seinen Abschiedsworten an die Stämme Israels sagt Moses zu Lewi:
Wer zu seinem Vater und zu seiner Mutter spricht: ich sehe dich nicht; und zu seinem Bruder: ich kenne ihn nicht; und zu seinem Sohne: ich weiß nichts von ihm; die halten deine Rede und bewahren deinen Bund.
Josseph mußte sich mit beiden Händen an der Wand stützen, so bewältigend wirkten diese Worte auf ihn. Konnte man ihm deutlicher Recht geben, als es hier Gott und in dessen Namen sein Prophet selbst that?
In der Stube war wieder eine bedeutsame Stille eingetreten.
In Josseph's Herzen hätte man den auf und nieder steigenden Strom der Blutwellen vernehmen und den Schlag des fiebernden Pulses erlauschen können. Ihm schien die ganze Natur mit Allem, was darin leibt und lebt, auf eine Antwort, auf eine Lösung aus dem Munde des Lehrers zu harren.
Lehrer, begann der Knabe, das versteh' ich nicht. Welches Kind wird denn zu seinem Vater oder zu
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/109>, abgerufen am 16.06.2024. |