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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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XX.
Unter Trümmern.

Drei Tage lang lag der Meister in einem hitzigen Fieber;
noch in der ersten Nacht nach der Versammlung war es
zum Ausbruch gekommen. Er phantasirte stark, führte
allerlei wirre Reden, in denen Handwerk, Fabriken
und Maschinen eine große Rolle spielten. Dann wieder
war es sein Sohn, mit dem er in diesen bösen
Träumen zu thun hatte und den er laut beim Namen rief.
Marie Beyer spielte auch diesmal die Krankenwärterin; ihr
Bruder aber stellte sich, sobald er entbehrlich wurde, an die
Drehbank und fing an zu drechseln, daß es eine Freude war,
ihm auf die Finger zu blicken. Er schien förmlich aufzuleben
bei der Beschäftigung an diesem Ort, dem er so lange hatte
fernbleiben müssen. Mit einem gewissen Ausdruck der Zärtlich¬
keit betrachtete er die Drehbank, die er Jahrzehnte hindurch
getreten hatte. Und wenn er jetzt leise sein altes Lied vor
sich hin summte: "So leben wir, so leben wir, so leben wir
alle Tage", so konnte man ihn für einen der glücklichsten
Menschen der Erde halten.


XX.
Unter Trümmern.

Drei Tage lang lag der Meiſter in einem hitzigen Fieber;
noch in der erſten Nacht nach der Verſammlung war es
zum Ausbruch gekommen. Er phantaſirte ſtark, führte
allerlei wirre Reden, in denen Handwerk, Fabriken
und Maſchinen eine große Rolle ſpielten. Dann wieder
war es ſein Sohn, mit dem er in dieſen böſen
Träumen zu thun hatte und den er laut beim Namen rief.
Marie Beyer ſpielte auch diesmal die Krankenwärterin; ihr
Bruder aber ſtellte ſich, ſobald er entbehrlich wurde, an die
Drehbank und fing an zu drechſeln, daß es eine Freude war,
ihm auf die Finger zu blicken. Er ſchien förmlich aufzuleben
bei der Beſchäftigung an dieſem Ort, dem er ſo lange hatte
fernbleiben müſſen. Mit einem gewiſſen Ausdruck der Zärtlich¬
keit betrachtete er die Drehbank, die er Jahrzehnte hindurch
getreten hatte. Und wenn er jetzt leiſe ſein altes Lied vor
ſich hin ſummte: „So leben wir, ſo leben wir, ſo leben wir
alle Tage“, ſo konnte man ihn für einen der glücklichſten
Menſchen der Erde halten.

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[[301]/0313] XX. Unter Trümmern. Drei Tage lang lag der Meiſter in einem hitzigen Fieber; noch in der erſten Nacht nach der Verſammlung war es zum Ausbruch gekommen. Er phantaſirte ſtark, führte allerlei wirre Reden, in denen Handwerk, Fabriken und Maſchinen eine große Rolle ſpielten. Dann wieder war es ſein Sohn, mit dem er in dieſen böſen Träumen zu thun hatte und den er laut beim Namen rief. Marie Beyer ſpielte auch diesmal die Krankenwärterin; ihr Bruder aber ſtellte ſich, ſobald er entbehrlich wurde, an die Drehbank und fing an zu drechſeln, daß es eine Freude war, ihm auf die Finger zu blicken. Er ſchien förmlich aufzuleben bei der Beſchäftigung an dieſem Ort, dem er ſo lange hatte fernbleiben müſſen. Mit einem gewiſſen Ausdruck der Zärtlich¬ keit betrachtete er die Drehbank, die er Jahrzehnte hindurch getreten hatte. Und wenn er jetzt leiſe ſein altes Lied vor ſich hin ſummte: „So leben wir, ſo leben wir, ſo leben wir alle Tage“, ſo konnte man ihn für einen der glücklichſten Menſchen der Erde halten.

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. [301]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/313>, abgerufen am 26.04.2024.