Lewald, Fanny: Für und wider die Frauen. Berlin, 1870.Romane, welche die Franzosen selber ein Jahrzehnt später als l'apotheose de la courtisane bezeichnet haben, und in denen unter Anderem eine der "großen unverstandenen Seelen" in irgend einem Schlosse ihre vier Kinder erzog, von denen jedes einen anderen Vater gehabt hatte. -- Das war allerdings nicht erbaulich und nicht nachahmenswerth, und es leben sicherlich noch Viele, die sich im Hinblick auf jene Zeiten und auf jene Art der Dichtungen, eben so wie ich mich selber, fragen werden: "wie haben wir das lesen können? wie ist es zugegangen, daß wir in dem Idealismus unserer Jugend nicht beleidigt und zurückgestoßen worden sind von demjenigen, was wir jetzt belächeln oder widerwärtig finden, wenn wir es lesen?" Dann aber kam der Ernst der neuen Revolution über unsere Zeit und über uns Alle. Das Verlangen des Einzelnen nach Befriedigung seiner persönlichen Willkür, das Suchen des Einzelnen nach seiner eigenen Freiheit und nach seinem eigenen ausschließlichen Glück, ging auf in dem Bestreben einer verhältnißmäßigen Befreiung der Gesammtheit. Die subjective Romantik ward von der Einsicht zum Schweigen gebracht, daß das Wohl des Einzelnen nur in dem Wohlbefinden der Gesammtheit möglich sei, und der Ruf nach der Emancipation der Frauen ertönte nun auch in einer anderen und würdigeren Gestalt. Jene Hunderte von weiblichen Handarbeiterinnen, Romane, welche die Franzosen selber ein Jahrzehnt später als l'apothéose de la courtisane bezeichnet haben, und in denen unter Anderem eine der »großen unverstandenen Seelen« in irgend einem Schlosse ihre vier Kinder erzog, von denen jedes einen anderen Vater gehabt hatte. — Das war allerdings nicht erbaulich und nicht nachahmenswerth, und es leben sicherlich noch Viele, die sich im Hinblick auf jene Zeiten und auf jene Art der Dichtungen, eben so wie ich mich selber, fragen werden: »wie haben wir das lesen können? wie ist es zugegangen, daß wir in dem Idealismus unserer Jugend nicht beleidigt und zurückgestoßen worden sind von demjenigen, was wir jetzt belächeln oder widerwärtig finden, wenn wir es lesen?« Dann aber kam der Ernst der neuen Revolution über unsere Zeit und über uns Alle. Das Verlangen des Einzelnen nach Befriedigung seiner persönlichen Willkür, das Suchen des Einzelnen nach seiner eigenen Freiheit und nach seinem eigenen ausschließlichen Glück, ging auf in dem Bestreben einer verhältnißmäßigen Befreiung der Gesammtheit. Die subjective Romantik ward von der Einsicht zum Schweigen gebracht, daß das Wohl des Einzelnen nur in dem Wohlbefinden der Gesammtheit möglich sei, und der Ruf nach der Emancipation der Frauen ertönte nun auch in einer anderen und würdigeren Gestalt. Jene Hunderte von weiblichen Handarbeiterinnen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0104" n="94"/> Romane, welche die Franzosen selber ein Jahrzehnt später als <hi rendition="#aq">l'apothéose de la courtisane</hi> bezeichnet haben, und in denen unter Anderem eine der »großen unverstandenen Seelen« in irgend einem Schlosse ihre vier Kinder erzog, von denen jedes einen anderen Vater gehabt hatte. — Das war allerdings nicht erbaulich und nicht nachahmenswerth, und es leben sicherlich noch Viele, die sich im Hinblick auf jene Zeiten und auf jene Art der Dichtungen, eben so wie ich mich selber, fragen werden: »wie haben wir das lesen können? wie ist es zugegangen, daß wir in dem Idealismus unserer Jugend nicht beleidigt und zurückgestoßen worden sind von demjenigen, was wir jetzt belächeln oder widerwärtig finden, wenn wir es lesen?«</p> <p>Dann aber kam der Ernst der neuen Revolution über unsere Zeit und über uns Alle. Das Verlangen des Einzelnen nach Befriedigung seiner persönlichen Willkür, das Suchen des Einzelnen nach seiner eigenen Freiheit und nach seinem eigenen ausschließlichen Glück, ging auf in dem Bestreben einer verhältnißmäßigen Befreiung der Gesammtheit. Die subjective Romantik ward von der Einsicht zum Schweigen gebracht, daß das Wohl des Einzelnen nur in dem Wohlbefinden der Gesammtheit möglich sei, und der Ruf nach der Emancipation der Frauen ertönte nun auch in einer anderen und würdigeren Gestalt.</p> <p>Jene Hunderte von weiblichen Handarbeiterinnen, </p> </div> </body> </text> </TEI> [94/0104]
Romane, welche die Franzosen selber ein Jahrzehnt später als l'apothéose de la courtisane bezeichnet haben, und in denen unter Anderem eine der »großen unverstandenen Seelen« in irgend einem Schlosse ihre vier Kinder erzog, von denen jedes einen anderen Vater gehabt hatte. — Das war allerdings nicht erbaulich und nicht nachahmenswerth, und es leben sicherlich noch Viele, die sich im Hinblick auf jene Zeiten und auf jene Art der Dichtungen, eben so wie ich mich selber, fragen werden: »wie haben wir das lesen können? wie ist es zugegangen, daß wir in dem Idealismus unserer Jugend nicht beleidigt und zurückgestoßen worden sind von demjenigen, was wir jetzt belächeln oder widerwärtig finden, wenn wir es lesen?«
Dann aber kam der Ernst der neuen Revolution über unsere Zeit und über uns Alle. Das Verlangen des Einzelnen nach Befriedigung seiner persönlichen Willkür, das Suchen des Einzelnen nach seiner eigenen Freiheit und nach seinem eigenen ausschließlichen Glück, ging auf in dem Bestreben einer verhältnißmäßigen Befreiung der Gesammtheit. Die subjective Romantik ward von der Einsicht zum Schweigen gebracht, daß das Wohl des Einzelnen nur in dem Wohlbefinden der Gesammtheit möglich sei, und der Ruf nach der Emancipation der Frauen ertönte nun auch in einer anderen und würdigeren Gestalt.
Jene Hunderte von weiblichen Handarbeiterinnen,
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Zitationshilfe: | Lewald, Fanny: Für und wider die Frauen. Berlin, 1870, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_frauen_1870/104>, abgerufen am 13.06.2024. |