Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Viertes Kapitel.
plötzlich gethaner Schritt aussieht, die aber im Grunde
nur eine nothwendige Consequenz des angedeuteten
Entwickelungsganges ist. Nachdem Lagrange in einer
Jugendarbeit versucht hatte, die ganze Mechanik auf
das Euler'sche Princip der kleinsten Wirkung zu grün-
den, erklärt er bei einer Neubearbeitung desselben
Gegenstandes, er wolle von allen theologischen und
metaphysischen Speculationen als sehr precären, und
nicht in die Wissenshaft gehörigen, gänzlich absehen.
Er führt einen Neubau der Mechanik auf andern Grund-
lagen aus, und kein Sachverständiger kann dessen Vor-
züge verkennen. Alle spätem bedeutenden Naturforscher
haben sich der Auffassung von Lagrange angeschlossen,
und damit war im Wesentlichen die heutige Stellung
der Physik zur Theologie gegeben.

6. Fast drei Jahrhunderte waren also nöthig, bis
die Ansicht, dass Theologie und Naturwissenschaft zwei
verschiedene Dinge seien, von ihrem ersten Aufkeimen
bei Kopernicus bis Lagrange sich zur vollen Klarheit
entwickelt hat. Dabei ist nicht zu verkennen, dass den
grössten Geistern, wie Newton, diese Wahrheit immer klar
war. Nie hat Newton trotz seiner tiefen Religiosität
die Theologie in naturwissenschaftliche Fragen einge-
mengt. Zwar schliesst auch er seine "Optik", während
noch auf den letzten Seiten der helle klare Geist
leuchtet, mit dem Ausdruck der Zerknirschung über die
Nichtigkeit alles Irdischen. Allein seine optischen
Untersuchungen selbst enthalten im Gegensatz zu jenen
Leibnitzens nicht die Spur von Theologie. Aehnliches
kann man von Galilei und Huyghens sagen. Ihre
Schriften entsprechen fast vollständig dem Standpunkt
von Lagrange, und können in dieser Richtung als
classisch gelten. Die Anschauung und Stimmung einer
Zeit darf aber nicht nach den Spitzen, sondern muss
nach dem Mittel gemessen werden.

Um den geschilderten Vorgang einigermaassen zu be-
greifen, haben wir Folgendes zu überlegen. Es ist
selbstverständlich, dass auf einer Culturstufe, auf welcher

Viertes Kapitel.
plötzlich gethaner Schritt aussieht, die aber im Grunde
nur eine nothwendige Consequenz des angedeuteten
Entwickelungsganges ist. Nachdem Lagrange in einer
Jugendarbeit versucht hatte, die ganze Mechanik auf
das Euler’sche Princip der kleinsten Wirkung zu grün-
den, erklärt er bei einer Neubearbeitung desselben
Gegenstandes, er wolle von allen theologischen und
metaphysischen Speculationen als sehr precären, und
nicht in die Wissenshaft gehörigen, gänzlich absehen.
Er führt einen Neubau der Mechanik auf andern Grund-
lagen aus, und kein Sachverständiger kann dessen Vor-
züge verkennen. Alle spätem bedeutenden Naturforscher
haben sich der Auffassung von Lagrange angeschlossen,
und damit war im Wesentlichen die heutige Stellung
der Physik zur Theologie gegeben.

6. Fast drei Jahrhunderte waren also nöthig, bis
die Ansicht, dass Theologie und Naturwissenschaft zwei
verschiedene Dinge seien, von ihrem ersten Aufkeimen
bei Kopernicus bis Lagrange sich zur vollen Klarheit
entwickelt hat. Dabei ist nicht zu verkennen, dass den
grössten Geistern, wie Newton, diese Wahrheit immer klar
war. Nie hat Newton trotz seiner tiefen Religiosität
die Theologie in naturwissenschaftliche Fragen einge-
mengt. Zwar schliesst auch er seine „Optik‟, während
noch auf den letzten Seiten der helle klare Geist
leuchtet, mit dem Ausdruck der Zerknirschung über die
Nichtigkeit alles Irdischen. Allein seine optischen
Untersuchungen selbst enthalten im Gegensatz zu jenen
Leibnitzens nicht die Spur von Theologie. Aehnliches
kann man von Galilei und Huyghens sagen. Ihre
Schriften entsprechen fast vollständig dem Standpunkt
von Lagrange, und können in dieser Richtung als
classisch gelten. Die Anschauung und Stimmung einer
Zeit darf aber nicht nach den Spitzen, sondern muss
nach dem Mittel gemessen werden.

Um den geschilderten Vorgang einigermaassen zu be-
greifen, haben wir Folgendes zu überlegen. Es ist
selbstverständlich, dass auf einer Culturstufe, auf welcher

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0442" n="430"/><fw place="top" type="header">Viertes Kapitel.</fw><lb/>
plötzlich gethaner Schritt aussieht, die aber im Grunde<lb/>
nur eine nothwendige Consequenz des angedeuteten<lb/>
Entwickelungsganges ist. Nachdem Lagrange in einer<lb/>
Jugendarbeit versucht hatte, die ganze Mechanik auf<lb/>
das Euler&#x2019;sche Princip der kleinsten Wirkung zu grün-<lb/>
den, erklärt er bei einer Neubearbeitung desselben<lb/>
Gegenstandes, er wolle von allen theologischen und<lb/>
metaphysischen Speculationen als sehr <hi rendition="#g">precären,</hi> und<lb/>
nicht in die Wissenshaft gehörigen, gänzlich absehen.<lb/>
Er führt einen Neubau der Mechanik auf andern Grund-<lb/>
lagen aus, und kein Sachverständiger kann dessen Vor-<lb/>
züge verkennen. Alle spätem bedeutenden Naturforscher<lb/>
haben sich der Auffassung von Lagrange angeschlossen,<lb/>
und damit war im Wesentlichen die heutige Stellung<lb/>
der Physik zur Theologie gegeben.</p><lb/>
          <p>6. Fast drei Jahrhunderte waren also nöthig, bis<lb/>
die Ansicht, dass Theologie und Naturwissenschaft zwei<lb/>
verschiedene Dinge seien, von ihrem ersten Aufkeimen<lb/>
bei Kopernicus bis Lagrange sich zur vollen Klarheit<lb/>
entwickelt hat. Dabei ist nicht zu verkennen, dass den<lb/>
grössten Geistern, wie Newton, diese Wahrheit immer klar<lb/>
war. Nie hat Newton trotz seiner tiefen Religiosität<lb/>
die Theologie in naturwissenschaftliche Fragen einge-<lb/>
mengt. Zwar schliesst auch er seine &#x201E;Optik&#x201F;, während<lb/>
noch auf den letzten Seiten der helle klare Geist<lb/>
leuchtet, mit dem Ausdruck der Zerknirschung über die<lb/>
Nichtigkeit alles Irdischen. Allein seine optischen<lb/>
Untersuchungen <hi rendition="#g">selbst</hi> enthalten im Gegensatz zu jenen<lb/>
Leibnitzens nicht die Spur von Theologie. Aehnliches<lb/>
kann man von Galilei und Huyghens sagen. Ihre<lb/>
Schriften entsprechen fast vollständig dem Standpunkt<lb/>
von Lagrange, und können in dieser Richtung als<lb/>
classisch gelten. Die Anschauung und Stimmung einer<lb/>
Zeit darf aber nicht nach den Spitzen, sondern muss<lb/>
nach dem Mittel gemessen werden.</p><lb/>
          <p>Um den geschilderten Vorgang einigermaassen zu be-<lb/>
greifen, haben wir Folgendes zu überlegen. Es ist<lb/>
selbstverständlich, dass auf einer Culturstufe, auf welcher<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[430/0442] Viertes Kapitel. plötzlich gethaner Schritt aussieht, die aber im Grunde nur eine nothwendige Consequenz des angedeuteten Entwickelungsganges ist. Nachdem Lagrange in einer Jugendarbeit versucht hatte, die ganze Mechanik auf das Euler’sche Princip der kleinsten Wirkung zu grün- den, erklärt er bei einer Neubearbeitung desselben Gegenstandes, er wolle von allen theologischen und metaphysischen Speculationen als sehr precären, und nicht in die Wissenshaft gehörigen, gänzlich absehen. Er führt einen Neubau der Mechanik auf andern Grund- lagen aus, und kein Sachverständiger kann dessen Vor- züge verkennen. Alle spätem bedeutenden Naturforscher haben sich der Auffassung von Lagrange angeschlossen, und damit war im Wesentlichen die heutige Stellung der Physik zur Theologie gegeben. 6. Fast drei Jahrhunderte waren also nöthig, bis die Ansicht, dass Theologie und Naturwissenschaft zwei verschiedene Dinge seien, von ihrem ersten Aufkeimen bei Kopernicus bis Lagrange sich zur vollen Klarheit entwickelt hat. Dabei ist nicht zu verkennen, dass den grössten Geistern, wie Newton, diese Wahrheit immer klar war. Nie hat Newton trotz seiner tiefen Religiosität die Theologie in naturwissenschaftliche Fragen einge- mengt. Zwar schliesst auch er seine „Optik‟, während noch auf den letzten Seiten der helle klare Geist leuchtet, mit dem Ausdruck der Zerknirschung über die Nichtigkeit alles Irdischen. Allein seine optischen Untersuchungen selbst enthalten im Gegensatz zu jenen Leibnitzens nicht die Spur von Theologie. Aehnliches kann man von Galilei und Huyghens sagen. Ihre Schriften entsprechen fast vollständig dem Standpunkt von Lagrange, und können in dieser Richtung als classisch gelten. Die Anschauung und Stimmung einer Zeit darf aber nicht nach den Spitzen, sondern muss nach dem Mittel gemessen werden. Um den geschilderten Vorgang einigermaassen zu be- greifen, haben wir Folgendes zu überlegen. Es ist selbstverständlich, dass auf einer Culturstufe, auf welcher

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/442
Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/442>, abgerufen am 26.04.2024.