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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ERSTES BUCH. KAPITEL IX.
Rom, aber freilich auch nicht umgekehrt als die Herrschaft
Roms über Südetrurien gefasst werden kann. In der That
ist weder für die eine noch für die andere Annahme irgend
qin ausreichender Grund vorhanden; die Geschichte der Tar-
euinier spielt in Latium, nicht in Etrurien und so weit wir
sehen, hat während der ganzen Königszeit Etrurien auf Rom
weder in der Sprache noch in Gebräuchen einen wesentlichen
Einfluss geübt oder gar die ebenmässige Entwicklung des rö-
mischen Staats und der latinischen Bündnisse unterbrochen.
Von den Seefahrten der Tusker und ihrer Meer- und Küsten-
herrschaft wird im folgenden Kapitel gesprochen werden.

Die tuskische Verfassung beruht gleich der latinischen
auf der Stadtgemeinde. Die frühe Richtung der Nation auf
Schifffahrt, Handel und Industrie scheint der Entwicklung
städtischer Gemeinwesen förderlich gewesen zu sein; unter
allen italischen Städten wird Caere am frühesten in den grie-
chischen Berichten genannt. Im Ganzen finden wir die Etru-
sker minder kriegstüchtig und kriegslustig als die Römer und
Sabeller; der unitalischen Sitte mit Söldnern zu fechten be-
gegnet man hier sehr früh. Die älteste Verfassung der Ge-
meinden muss in den allgemeinen Grundzügen Aehnlichkeit
mit der römischen gehabt haben: Könige oder Lucumonen
herrschten, die ähnliche Insignien, also wohl auch ähnliche
Machtfülle besassen wie die römischen; Vornehme und Ge-
ringe standen sich schroff gegenüber; für die Aehnlichkeit
der Geschlechterordnung bürgt die Analogie des Namensy-
stems, nur dass be den Etruskern die Abstammung von
mütterlicher Seite weit mehr Beachtung findet als im römi-
schen Recht. Die Bundesverfassung scheint sehr lose gewesen
zu sein. Sie umschloss nicht die gesammte Nation, sondern
es waren die nördlichen und die campanischen Etrusker zu
eigenen Eidgenossenschaften vereinigt ebenso wie die Ge-
meinden des eigentlichen Etrurien; jeder dieser Bünde be-
stand aus zwölf Gemeinden, die zwar eine Metropole, namentlich
für den Götterdienst, und ein Bundeshaupt oder vielmehr einen
Oberpriester anerkannten, aber doch im Wesentlichen gleich-
berechtigt gewesen zu sein scheinen und zum Theil wenig-
stens so mächtig, dass weder eine Hegemonie sich bilden
noch die Centralgewalt zur Consolidirung gelangen konnte.
Im eigentlichen Etrurien war die Metropole Volsinii; von den
übrigen Zwölfstädten desselben kennen wir durch sichere
Ueberlieferung nur Vetulonium, Volci und Tarquinii. Es ist

ERSTES BUCH. KAPITEL IX.
Rom, aber freilich auch nicht umgekehrt als die Herrschaft
Roms über Südetrurien gefaſst werden kann. In der That
ist weder für die eine noch für die andere Annahme irgend
qin ausreichender Grund vorhanden; die Geschichte der Tar-
euinier spielt in Latium, nicht in Etrurien und so weit wir
sehen, hat während der ganzen Königszeit Etrurien auf Rom
weder in der Sprache noch in Gebräuchen einen wesentlichen
Einfluſs geübt oder gar die ebenmäſsige Entwicklung des rö-
mischen Staats und der latinischen Bündnisse unterbrochen.
Von den Seefahrten der Tusker und ihrer Meer- und Küsten-
herrschaft wird im folgenden Kapitel gesprochen werden.

Die tuskische Verfassung beruht gleich der latinischen
auf der Stadtgemeinde. Die frühe Richtung der Nation auf
Schifffahrt, Handel und Industrie scheint der Entwicklung
städtischer Gemeinwesen förderlich gewesen zu sein; unter
allen italischen Städten wird Caere am frühesten in den grie-
chischen Berichten genannt. Im Ganzen finden wir die Etru-
sker minder kriegstüchtig und kriegslustig als die Römer und
Sabeller; der unitalischen Sitte mit Söldnern zu fechten be-
gegnet man hier sehr früh. Die älteste Verfassung der Ge-
meinden muſs in den allgemeinen Grundzügen Aehnlichkeit
mit der römischen gehabt haben: Könige oder Lucumonen
herrschten, die ähnliche Insignien, also wohl auch ähnliche
Machtfülle besaſsen wie die römischen; Vornehme und Ge-
ringe standen sich schroff gegenüber; für die Aehnlichkeit
der Geschlechterordnung bürgt die Analogie des Namensy-
stems, nur daſs be den Etruskern die Abstammung von
mütterlicher Seite weit mehr Beachtung findet als im römi-
schen Recht. Die Bundesverfassung scheint sehr lose gewesen
zu sein. Sie umschloſs nicht die gesammte Nation, sondern
es waren die nördlichen und die campanischen Etrusker zu
eigenen Eidgenossenschaften vereinigt ebenso wie die Ge-
meinden des eigentlichen Etrurien; jeder dieser Bünde be-
stand aus zwölf Gemeinden, die zwar eine Metropole, namentlich
für den Götterdienst, und ein Bundeshaupt oder vielmehr einen
Oberpriester anerkannten, aber doch im Wesentlichen gleich-
berechtigt gewesen zu sein scheinen und zum Theil wenig-
stens so mächtig, daſs weder eine Hegemonie sich bilden
noch die Centralgewalt zur Consolidirung gelangen konnte.
Im eigentlichen Etrurien war die Metropole Volsinii; von den
übrigen Zwölfstädten desselben kennen wir durch sichere
Ueberlieferung nur Vetulonium, Volci und Tarquinii. Es ist

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[86/0100] ERSTES BUCH. KAPITEL IX. Rom, aber freilich auch nicht umgekehrt als die Herrschaft Roms über Südetrurien gefaſst werden kann. In der That ist weder für die eine noch für die andere Annahme irgend qin ausreichender Grund vorhanden; die Geschichte der Tar- euinier spielt in Latium, nicht in Etrurien und so weit wir sehen, hat während der ganzen Königszeit Etrurien auf Rom weder in der Sprache noch in Gebräuchen einen wesentlichen Einfluſs geübt oder gar die ebenmäſsige Entwicklung des rö- mischen Staats und der latinischen Bündnisse unterbrochen. Von den Seefahrten der Tusker und ihrer Meer- und Küsten- herrschaft wird im folgenden Kapitel gesprochen werden. Die tuskische Verfassung beruht gleich der latinischen auf der Stadtgemeinde. Die frühe Richtung der Nation auf Schifffahrt, Handel und Industrie scheint der Entwicklung städtischer Gemeinwesen förderlich gewesen zu sein; unter allen italischen Städten wird Caere am frühesten in den grie- chischen Berichten genannt. Im Ganzen finden wir die Etru- sker minder kriegstüchtig und kriegslustig als die Römer und Sabeller; der unitalischen Sitte mit Söldnern zu fechten be- gegnet man hier sehr früh. Die älteste Verfassung der Ge- meinden muſs in den allgemeinen Grundzügen Aehnlichkeit mit der römischen gehabt haben: Könige oder Lucumonen herrschten, die ähnliche Insignien, also wohl auch ähnliche Machtfülle besaſsen wie die römischen; Vornehme und Ge- ringe standen sich schroff gegenüber; für die Aehnlichkeit der Geschlechterordnung bürgt die Analogie des Namensy- stems, nur daſs be den Etruskern die Abstammung von mütterlicher Seite weit mehr Beachtung findet als im römi- schen Recht. Die Bundesverfassung scheint sehr lose gewesen zu sein. Sie umschloſs nicht die gesammte Nation, sondern es waren die nördlichen und die campanischen Etrusker zu eigenen Eidgenossenschaften vereinigt ebenso wie die Ge- meinden des eigentlichen Etrurien; jeder dieser Bünde be- stand aus zwölf Gemeinden, die zwar eine Metropole, namentlich für den Götterdienst, und ein Bundeshaupt oder vielmehr einen Oberpriester anerkannten, aber doch im Wesentlichen gleich- berechtigt gewesen zu sein scheinen und zum Theil wenig- stens so mächtig, daſs weder eine Hegemonie sich bilden noch die Centralgewalt zur Consolidirung gelangen konnte. Im eigentlichen Etrurien war die Metropole Volsinii; von den übrigen Zwölfstädten desselben kennen wir durch sichere Ueberlieferung nur Vetulonium, Volci und Tarquinii. Es ist

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/100>, abgerufen am 26.04.2024.