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Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772.

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daß man weder die menschliche Seele noch das Christen-
thum recht kennet, wenn man so denkt. Liebe zu Gott,
ohne alle Beziehung auf uns selbst, ist eine bloße Jdee.
Jch fühle es, daß ich einen Freund, der sich immer kalt-
sinnig gegen mich bewiese, in die Länge nicht würde lie-
ben können. Und dem höchsten Wesen kann auch eine
Liebe nicht misfällig seyn, wobey wir auf unser eignes
Beste sehen, denn ihm kann unsre Zuneigung nie vortheil-
haft werden, sondern allein uns selbst. Und warum soll-
ten wir die Belohnungen nicht suchen und annehmen
wollen, die er selbst uns angeboten und versprochen hat?

Bey meiner so starken Neigung zur körperlichen
Wollust habe ich mir immer vorgestellt, daß die Freuden
des Himmels, weil jene nicht mit zu diesen gehörte, für
mich nicht sehr viel Reiz haben könnten. "Die körper-
liche Wollust, von der sie reden, Herr Graf, werden
freylich die Seeligen eben so wenig empfinden, als sie sie
begehren werden. Alle diejenigen Vergnügungen, deren
Endweck dort nicht mehr nöthig seyn wird, vermuhtlich
auch diejenigen Werkzeuge der Sinne, durch welche sie
hier empfunden werden, werden dort aufhören. Dahin
gehören z. Ex. die Annehmlichkeiten der Tafel und der
Ehe. Sie werden in der Geschichte Jesu einen Aus-
spruch derselben gefunden haben, der hieher gehört.
Matth. 22, 30. Daß wir aber in der künftigen
Welt gar keine angenehme sinnliche Empfindungen sollten
erwarten können, scheint mir nicht wahrscheinlich zu seyn.
Wir werden ja einen organischen Leib haben, und also
auch Sinne. Diese werden durch die Eindrücke äußer-
licher Gegenstände auf eine angenehme Art gerührt wer-
den können. Sie werden, weil die Materie des Leibes
sehr viel feiner seyn wird, als diejenige, woraus itzt
unser Körper gebaut ist, auch feiner, empfindlicher
und schärfer seyn, also auch uns richtigere und genauer

getroffe-



daß man weder die menſchliche Seele noch das Chriſten-
thum recht kennet, wenn man ſo denkt. Liebe zu Gott,
ohne alle Beziehung auf uns ſelbſt, iſt eine bloße Jdee.
Jch fuͤhle es, daß ich einen Freund, der ſich immer kalt-
ſinnig gegen mich bewieſe, in die Laͤnge nicht wuͤrde lie-
ben koͤnnen. Und dem hoͤchſten Weſen kann auch eine
Liebe nicht misfaͤllig ſeyn, wobey wir auf unſer eignes
Beſte ſehen, denn ihm kann unſre Zuneigung nie vortheil-
haft werden, ſondern allein uns ſelbſt. Und warum ſoll-
ten wir die Belohnungen nicht ſuchen und annehmen
wollen, die er ſelbſt uns angeboten und verſprochen hat?

Bey meiner ſo ſtarken Neigung zur koͤrperlichen
Wolluſt habe ich mir immer vorgeſtellt, daß die Freuden
des Himmels, weil jene nicht mit zu dieſen gehoͤrte, fuͤr
mich nicht ſehr viel Reiz haben koͤnnten. “Die koͤrper-
liche Wolluſt, von der ſie reden, Herr Graf, werden
freylich die Seeligen eben ſo wenig empfinden, als ſie ſie
begehren werden. Alle diejenigen Vergnuͤgungen, deren
Endweck dort nicht mehr noͤthig ſeyn wird, vermuhtlich
auch diejenigen Werkzeuge der Sinne, durch welche ſie
hier empfunden werden, werden dort aufhoͤren. Dahin
gehoͤren z. Ex. die Annehmlichkeiten der Tafel und der
Ehe. Sie werden in der Geſchichte Jeſu einen Aus-
ſpruch derſelben gefunden haben, der hieher gehoͤrt.
Matth. 22, 30. Daß wir aber in der kuͤnftigen
Welt gar keine angenehme ſinnliche Empfindungen ſollten
erwarten koͤnnen, ſcheint mir nicht wahrſcheinlich zu ſeyn.
Wir werden ja einen organiſchen Leib haben, und alſo
auch Sinne. Dieſe werden durch die Eindruͤcke aͤußer-
licher Gegenſtaͤnde auf eine angenehme Art geruͤhrt wer-
den koͤnnen. Sie werden, weil die Materie des Leibes
ſehr viel feiner ſeyn wird, als diejenige, woraus itzt
unſer Koͤrper gebaut iſt, auch feiner, empfindlicher
und ſchaͤrfer ſeyn, alſo auch uns richtigere und genauer

getroffe-
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[140/0152] daß man weder die menſchliche Seele noch das Chriſten- thum recht kennet, wenn man ſo denkt. Liebe zu Gott, ohne alle Beziehung auf uns ſelbſt, iſt eine bloße Jdee. Jch fuͤhle es, daß ich einen Freund, der ſich immer kalt- ſinnig gegen mich bewieſe, in die Laͤnge nicht wuͤrde lie- ben koͤnnen. Und dem hoͤchſten Weſen kann auch eine Liebe nicht misfaͤllig ſeyn, wobey wir auf unſer eignes Beſte ſehen, denn ihm kann unſre Zuneigung nie vortheil- haft werden, ſondern allein uns ſelbſt. Und warum ſoll- ten wir die Belohnungen nicht ſuchen und annehmen wollen, die er ſelbſt uns angeboten und verſprochen hat? Bey meiner ſo ſtarken Neigung zur koͤrperlichen Wolluſt habe ich mir immer vorgeſtellt, daß die Freuden des Himmels, weil jene nicht mit zu dieſen gehoͤrte, fuͤr mich nicht ſehr viel Reiz haben koͤnnten. “Die koͤrper- liche Wolluſt, von der ſie reden, Herr Graf, werden freylich die Seeligen eben ſo wenig empfinden, als ſie ſie begehren werden. Alle diejenigen Vergnuͤgungen, deren Endweck dort nicht mehr noͤthig ſeyn wird, vermuhtlich auch diejenigen Werkzeuge der Sinne, durch welche ſie hier empfunden werden, werden dort aufhoͤren. Dahin gehoͤren z. Ex. die Annehmlichkeiten der Tafel und der Ehe. Sie werden in der Geſchichte Jeſu einen Aus- ſpruch derſelben gefunden haben, der hieher gehoͤrt. Matth. 22, 30. Daß wir aber in der kuͤnftigen Welt gar keine angenehme ſinnliche Empfindungen ſollten erwarten koͤnnen, ſcheint mir nicht wahrſcheinlich zu ſeyn. Wir werden ja einen organiſchen Leib haben, und alſo auch Sinne. Dieſe werden durch die Eindruͤcke aͤußer- licher Gegenſtaͤnde auf eine angenehme Art geruͤhrt wer- den koͤnnen. Sie werden, weil die Materie des Leibes ſehr viel feiner ſeyn wird, als diejenige, woraus itzt unſer Koͤrper gebaut iſt, auch feiner, empfindlicher und ſchaͤrfer ſeyn, alſo auch uns richtigere und genauer getroffe-

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Zitationshilfe: Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/152>, abgerufen am 30.04.2024.