lassen, und sie mit keinem Wort weiter an- zutasten, oder durch seine unheilige Zung zu profaniren. Jedoch bedacht ich mich bald nachher anders. Wenn eine jede gelehrte Diskrepanz über Lehrmeynungen, sprach zu mir selbst, durchs Faustrecht ausgegli- chen werden sollt', so würde der Rauffereyen kein End' seyn. Zählt man doch, wie uns der heilige Augustinus berichtet, im Alter- thum 288 besondere Sekten, die über die philosophische Frag, was Glückseligkeit sey, und wie man dazu gelange, uneinig waren; gleichwol findet man nicht, daß einer die- ser Sektirer seinem Widersacher den Bart zerzaußt, oder den Mantel zerrissen habe. Wer weis, ob über die Frag: giebts eine Physiognomik, und was ist sie? -- Kunst oder Wissenschaft? -- Licht eines Fix- sterns oder Sternschneuze? mit der Zeit nicht eben so viel gelehrte Sekten sich zan- ken werden. Die physiognomische Ge-
meinde
laſſen, und ſie mit keinem Wort weiter an- zutaſten, oder durch ſeine unheilige Zung zu profaniren. Jedoch bedacht ich mich bald nachher anders. Wenn eine jede gelehrte Diſkrepanz uͤber Lehrmeynungen, ſprach zu mir ſelbſt, durchs Fauſtrecht ausgegli- chen werden ſollt’, ſo wuͤrde der Rauffereyen kein End’ ſeyn. Zaͤhlt man doch, wie uns der heilige Auguſtinus berichtet, im Alter- thum 288 beſondere Sekten, die uͤber die philoſophiſche Frag, was Gluͤckſeligkeit ſey, und wie man dazu gelange, uneinig waren; gleichwol findet man nicht, daß einer die- ſer Sektirer ſeinem Widerſacher den Bart zerzaußt, oder den Mantel zerriſſen habe. Wer weis, ob uͤber die Frag: giebts eine Phyſiognomik, und was iſt ſie? — Kunſt oder Wiſſenſchaft? — Licht eines Fix- ſterns oder Sternſchneuze? mit der Zeit nicht eben ſo viel gelehrte Sekten ſich zan- ken werden. Die phyſiognomiſche Ge-
meinde
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laſſen, und ſie mit keinem Wort weiter an-
zutaſten, oder durch ſeine unheilige Zung zu
profaniren. Jedoch bedacht ich mich bald
nachher anders. Wenn eine jede gelehrte
Diſkrepanz uͤber Lehrmeynungen, ſprach
zu mir ſelbſt, durchs Fauſtrecht ausgegli-
chen werden ſollt’, ſo wuͤrde der Rauffereyen
kein End’ ſeyn. Zaͤhlt man doch, wie uns
der heilige Auguſtinus berichtet, im Alter-
thum 288 beſondere Sekten, die uͤber die
philoſophiſche Frag, was Gluͤckſeligkeit ſey,
und wie man dazu gelange, uneinig waren;
gleichwol findet man nicht, daß einer die-
ſer Sektirer ſeinem Widerſacher den Bart
zerzaußt, oder den Mantel zerriſſen habe.
Wer weis, ob uͤber die Frag: giebts eine
Phyſiognomik, und was iſt ſie? — Kunſt
oder Wiſſenſchaft? — Licht eines Fix-
ſterns oder Sternſchneuze? mit der Zeit
nicht eben ſo viel gelehrte Sekten ſich zan-
ken werden. Die phyſiognomiſche Ge-
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/108>, abgerufen am 15.06.2024.
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