nerer Schaam. Wie ganz anders dachte sie jetzt über den Grafen, diesen leichtfertigen, wortbrüchigen Men¬ schen, der sie beinahe in den Abgrund getaumelt. Ja, sie fühlte so etwas wie Fügung Gottes, daß sie vor noch tieferem Fall und äußerster Schande bewahrt ge¬ blieben. Mit welchem Leichtsinn aber hatte sie sich ihrem Manne in die Arme geworfen! Sie hatte ge¬ wußt, daß er leichtfertig, ja sie zweifelte eigentlich nicht an der Tante Aussage, daß er schlecht und herz¬ los sei; aber sie meinte damals, wenn es ihr äußer¬ lich wohl ginge, wäre sie glücklich. Und wie unglück¬ lich und trostlos hatte sie sich an seiner Seite gefühlt, wie war jetzt ihre ganze Zukunft zerstört! Ob dir der liebe Gott dennoch helfen könnte? kam ihr ein heller Gedanke in der Nacht ihres Herzens. Die Tante hatte oft gesagt: Aeußere Noth ist kein Unglück, der Herr kann uns dabei doch Frieden und Freude schenken. Sie schaute auf ihr Gretchen, das so sanft in der Wiege schlief, und fühlte eine Ahnung höherer Freude, als alle irdischen Genüsse ihr bis jetzt geboten. Für das Kind leben, arbeiten, das soll mein Trost sein! O wie süß es jetzt seine Aermchen streckte und dehnte und seine Aeuglein aufthat! Klärchen nahm das Kind an ihre Brust und vergaß allen Kummer. Sie nahm sich vor, alle Schaam zu überwinden und morgen gleich neue Kundschaft als Schneiderin zu suchen, die dreißig Thaler wollte sie sparen und für Nothfälle auf¬ heben, damit es ihrem Kinde nie am Nöthigsten ge¬ bräche.
Aber es sollte anders sein. Klärchens noch zarte Gesundheit war von den letzten Stürmen so erschüt¬
nerer Schaam. Wie ganz anders dachte ſie jetzt über den Grafen, dieſen leichtfertigen, wortbrüchigen Men¬ ſchen, der ſie beinahe in den Abgrund getaumelt. Ja, ſie fühlte ſo etwas wie Fügung Gottes, daß ſie vor noch tieferem Fall und äußerſter Schande bewahrt ge¬ blieben. Mit welchem Leichtſinn aber hatte ſie ſich ihrem Manne in die Arme geworfen! Sie hatte ge¬ wußt, daß er leichtfertig, ja ſie zweifelte eigentlich nicht an der Tante Ausſage, daß er ſchlecht und herz¬ los ſei; aber ſie meinte damals, wenn es ihr äußer¬ lich wohl ginge, wäre ſie glücklich. Und wie unglück¬ lich und troſtlos hatte ſie ſich an ſeiner Seite gefühlt, wie war jetzt ihre ganze Zukunft zerſtört! Ob dir der liebe Gott dennoch helfen könnte? kam ihr ein heller Gedanke in der Nacht ihres Herzens. Die Tante hatte oft geſagt: Aeußere Noth iſt kein Unglück, der Herr kann uns dabei doch Frieden und Freude ſchenken. Sie ſchaute auf ihr Gretchen, das ſo ſanft in der Wiege ſchlief, und fühlte eine Ahnung höherer Freude, als alle irdiſchen Genüſſe ihr bis jetzt geboten. Für das Kind leben, arbeiten, das ſoll mein Troſt ſein! O wie ſüß es jetzt ſeine Aermchen ſtreckte und dehnte und ſeine Aeuglein aufthat! Klärchen nahm das Kind an ihre Bruſt und vergaß allen Kummer. Sie nahm ſich vor, alle Schaam zu überwinden und morgen gleich neue Kundſchaft als Schneiderin zu ſuchen, die dreißig Thaler wollte ſie ſparen und für Nothfälle auf¬ heben, damit es ihrem Kinde nie am Nöthigſten ge¬ bräche.
Aber es ſollte anders ſein. Klärchens noch zarte Geſundheit war von den letzten Stürmen ſo erſchüt¬
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nerer Schaam. Wie ganz anders dachte ſie jetzt über
den Grafen, dieſen leichtfertigen, wortbrüchigen Men¬
ſchen, der ſie beinahe in den Abgrund getaumelt. Ja,
ſie fühlte ſo etwas wie Fügung Gottes, daß ſie vor
noch tieferem Fall und äußerſter Schande bewahrt ge¬
blieben. Mit welchem Leichtſinn aber hatte ſie ſich
ihrem Manne in die Arme geworfen! Sie hatte ge¬
wußt, daß er leichtfertig, ja ſie zweifelte eigentlich
nicht an der Tante Ausſage, daß er ſchlecht und herz¬
los ſei; aber ſie meinte damals, wenn es ihr äußer¬
lich wohl ginge, wäre ſie glücklich. Und wie unglück¬
lich und troſtlos hatte ſie ſich an ſeiner Seite gefühlt,
wie war jetzt ihre ganze Zukunft zerſtört! Ob dir der
liebe Gott dennoch helfen könnte? kam ihr ein heller
Gedanke in der Nacht ihres Herzens. Die Tante hatte
oft geſagt: Aeußere Noth iſt kein Unglück, der Herr
kann uns dabei doch Frieden und Freude ſchenken.
Sie ſchaute auf ihr Gretchen, das ſo ſanft in der
Wiege ſchlief, und fühlte eine Ahnung höherer Freude,
als alle irdiſchen Genüſſe ihr bis jetzt geboten. Für
das Kind leben, arbeiten, das ſoll mein Troſt ſein!
O wie ſüß es jetzt ſeine Aermchen ſtreckte und dehnte
und ſeine Aeuglein aufthat! Klärchen nahm das Kind
an ihre Bruſt und vergaß allen Kummer. Sie nahm
ſich vor, alle Schaam zu überwinden und morgen
gleich neue Kundſchaft als Schneiderin zu ſuchen, die
dreißig Thaler wollte ſie ſparen und für Nothfälle auf¬
heben, damit es ihrem Kinde nie am Nöthigſten ge¬
bräche.
Aber es ſollte anders ſein. Klärchens noch zarte
Geſundheit war von den letzten Stürmen ſo erſchüt¬
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Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851/131>, abgerufen am 17.06.2024.
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