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Czernowitzer Allgemeine Zeitung. Nr. 458, Czernowitz, 12.07.1905.

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12. Juli 1905. Czernowitzer Allgemeine Zeitung.

[Spaltenumbruch]

(Gonvernement Wladimir.) Gestern
zerstörten ausständige Arbeiter die Telephon- und
Telegraphenleitungen, plünderten Läden und legten mehrfach
Feuer an. Die Bevölkerung verläßt den Ort. (zirka 15.000
Einwohner.)

Die Ursachen der Meuterei.

In Konstanza erklärte der Matrose
Matuschenko vom "Potemkin", der der eigentliche Leiter der
Meuterei gewesen ist, er sei schon vorher als Arbeiter
bewußter Sozialdemokrat gewesen. Als Matrose gehörte er
der sozial-revolutionären Organisation an und hatte auf dem
"Potemkin" eifrige Propapanda entwickelt. Nur er und einige
Kameraden wußten, daß eine allgemeine Revolte des Ge-
schwaders beabsichtigt sei. Verabredet war ein gewisses
Zeichen, daß ein Schiff, das er nicht nennen will, geben
sollte. Da geschah es, daß der zweite Kapitän Giliarowski
den Matrosen Vakuliliniciuk, der namens der Mannschaft
über schlechte Beköstigung klagte, erschoß. Blind vor Empörung
ergriff Matuschenko sein Gewehr und schoß Giliarowski nieder.
Dies war das Zeichen für die allgemeine Meuterei. Der erste
Kapitän Golikow wurde gleichfalls getötet, Leutnant Minior
feuerte zwei Revolverschüsse gegen Matuschenko, die ihn dicht
unter der Schläfe streiften und Zeichen hinterließen, die noch
jetzt sichtbar sind. Darauf übernahm Matuschenko und einige
Genossen die Leitung des Schiffes. Munition war im
Ueberfluß vorhanden. Sie fuhren nach Odessa. Es sei
unwahr, daß Matuschenko die Disziplin der Besatzung mit
strengen Mitteln habe erhalten müssen; er hatte genügend
moralischen Einfluß. Alle Mann waren eifrig auf ihrem
Platz. Schließlich fehlte aber Kohle und Wasser. Die
Maschinen wurden mit Seewasser gespeist, wodurch ein Teil
der Kessel defekt wurde. Die Mannschaft wollte Städte nicht
beschießen, aber wenn die Schwarzmeerflotte angegriffen
hätte, so wäre eine Schlacht unvermeidlich gewesen; die
Kanonen waren geladen.

Wie der in Odessa weilende
Priester des Rebellenschiffes "Potemkin" erzählt, haben sich
entsetzliche Szenen, die jeder Beschreibung spotten, bei der
Meuterei zugetragen. So wurde der verwundete Kommandeur
und die Mehrzahl der blessierten Offiziere lebendig über
Bord geworfen, doch blieben noch 11 Offiziere übrig, die von
der Besatzung aus der Kajüte auf Deck berufen wurden.
Diesen wurde bedeutet, daß sie sich als Kriegsgefangene zu be-
trachten hätten. Darauf sprangen 6 von ihnen über Bord, wurden
jedoch, als sie wieder an die Oberfläche des Meeres kamen,
von den Matosen erschossen. Die übrigen fünf wurden zum
Tode verurteilt, aber von dem Rebellen-Kommandeur
Fähnrich Alexejew begnadigt und in Odessa ans Land
gesetzt. Unter den mit knapper Not dem Tode Entronnenen
befand sich der Oberst Schulz vom Technischen Komitee der
Artillerie-Abteilung, der auf den "Knjäs Potemkin" kom-
mandiert war.

Das russische Torpedoboot "267".

Die Mannschaft des von Konstanza
nach Sebastopol abgegangenen Torpedoboots "267" hofft,
wie sie vor ihrer Abfahrt erklärte, auf milde Behandlung
weil sie von der Mannschaft des "Potemkin" terrorisiert
worden sei. Sie scheint die Tragweite ihres Handelns nicht
zu begreifen.

Das Briefgeheimnis.

Die im größten Maßstabe von
der russischen Regierung betriebene Verletzung des Briefge-
heimnisses ist von ihr zu wiederholten Malen zugegeben
worden, wobei die angegebene Zahl der geöffneten Briefe
in die Zehntausende stieg. Um nicht mit gewissen Paragraphen
der Berner Konvention in offenen Konflikt zu kommen, wurde
vor Kurzem ein Gesetz erlassen, das außerhalb Rußlands in
russischer Sprache gedruckte Schriften mit einem hohen Zoll
belegt. Auf der Suche nach solchen verzollbaren Drucksachen
kann jeder Brief aus dem Auslande unbeanstandet geöffnet
werden. Beim umgekehrten Fall, d. h. wenn ein Brief aus
Rußland ins Ausland befördert wird und dieser famose Zoll-
paragraph sich nicht in Anwendung bringen läßt, ist das
Verfahren noch einfacher, da es ja sonst gut wie gar keine
Kläger geben kann, denn die Klage eines russischen Untertans
wird nicht berücksichtigt und einem Ausländer zahlt man
schlimmstenfalls für einen verloren gegangenen eingeschriebenen
Brief die 10 Rubel Ersatz, falls er klagbar zu werden
Geduld und Energie haben sollte. Für nicht eingeschriebene
Briefe übernimmt die russische Post nicht die geringste Ver-
antwortung. Der Briefverlust in Rußland ist denn auch ein
massenhafter, aber die Verletzung des Briefgeheimnisses ent-
spricht allem Möglichen, nur nicht ihrem eigenen Zweck der
politischen Spionage nämlich, da die russische freiheitliche
Bewegung längst andere sichere Wege und Mittel gefunden hat,
um ihre Korrespondenz zu befördern, die schon längst nicht mehr
der ohnehin wenig zuverlässigen russischen Post anvertraut wird.
[Spaltenumbruch] Trotzdem ersetzt das Petersburger Zollamt eine neue Vorschrift an
die Zollbeamten, in der diese angehalten werden, aus dem Auslande
einlaufende Bücher aufs genaueste zu untersuchen, ehe sie diese
an die Zensur weitergeben. Also doppelte Kontrolle. Zuerst
wird der Zollbeamte jedes Buch mit wenig sauberen Händen
durchblättern, dann kommt es in die Hände des Zensors der
ungeniert und ungestraft auch das kostbare Werk mit seinem
Blaustift verdirbt, um anzuzeigen, daß es gestattet ist. Zähne-
knirschend sieht der Bücherfreund das ominöse "P" des
Zensors, das sich durch keinen Radiergummi wieder vom
Tittelblatt oder Umschlag entfernen läßt, auf seinen Büchern,
ganz abgesehen von dem übrigen Vandalismus der Zensur,
die mit schwarzer klebriger Tünche und mit der Schere auch
das seltenste Prachtwerk bearbeitet, wenn eine Seite, ja eine
Zeile bloß ihr nicht konveniert. Diese lächerliche Barbarei,
die nicht im geringsten ihren Zweck erreicht, wohl aber
Empörung hervorruft, trägt natürlich dem Regime mehr als
einen Feind ein, unter denen, die unter der zynischen Borniert-
heit dieser Maßregeln zu leiden haben.

Die Aussichten der russischen Presse. (Orig.-Korr.)

Es kann
keinem Zweifel mehr unterliegen, daß die Tätigkeit der
Kommission Kobeko, die Vorschläge zur Preßreform machen
sollte, der Regierung auch nicht den mindesten Anstoß zu
einer freieren Auffassung ihrer Stellung zu den Organen der
öffentlichen Meinung gegeben hat. Die Unterdrückung von
Blättern wie "Ruß", "Wetschernaja Potschta", "Rußkaja
Mysl" zeigt, daß mit dem gegenwärtigen System der
Zwangsbehandlung vorläufig nicht gebrochen werden soll.
Dagegen heißt es, daß Schipow, der neuerdings sehr ernsthaft
als Nachfolger des "amtsmüden" Bulygin in der Leitung
des Ministeriums des Innern genannt wird, die Gewährung
der Preßfreiheit als Bedingung für eine etwaige Ueber-
nahme des Portefeuilles aufgestellt habe. Schipow gehörte
bekanntlich zu jenen Semstwomitgliedern, die sich prinzipiell
gegen die Verfassungsidee aussprachen und dadurch die
Sympathie der Regierung erwarben. Erst im Mai schloß
er sich der verfassungsfreundlichen Majorität an und gilt
nun als eine Art Politiker der mittleren Linie, der gewisse
Reformen befürworten würde, ohne mit dem alten System
ganz zu brechen. Ob die Presse von ihm tatsächlich viel zu
erwarten hat, muß noch bezweifelt werden.




Dom Tage.


Die Einigung zwischen Frankreich und
Deutschland.

"Temps" vervollständigt seine An-
gaben über das morgen in der Kammer zu verlesende deutsch-
französische Schriftstück. Die wichtigste dieser Angaben ist,
daß das Dokument die Verträge nicht aufzählt, welche
Frankreich, Marokko betreffend, bis heute abgeschlossen hat.
Diese Verträge bleiben, weil sie in den deutsch-französischen
Verhandlungen außerhalb der Diskussion standen, in der
Note unerwähnt, und dies gilt nicht allein von denjenigen
des Jahres 1904, sondern auch von den vorangegangenen
Abmachungen der Jahre 1845, 1900 und 1901. Daraus
folgt, daß die Konferenz in diesem Betracht vollkommen un-
beeinflußt entscheiden wird, welche Reformen kraft des von
niemand auch von Deutschland nicht bestrittenen Vorzugs-
rechtes Frankreich zur Durchführung sollen übertragen werden.
In der Note werden Frankreichs Sonderinteressen nicht bloß
damit begründet, daß es eine ausgedehnte Grenze zu schützen
hat, sondern auch mit der Notwendigkeit, die muselmanische
Bevölkerung Algeriens vor störenden marokkanischen Einflüssen
zu bewahren. Kurze Erwähnung finden in den einleitenden
Zeilen die drei Prinzipien, über welche Deutschland und
Frankreich von Anbeginn einig gewesen, nämlich: Souveränität
des Sultans, Integrität Marokkos und die "offene Tür!"
Ein Datum für die Dauer der Handelsfreiheit ist nicht an-
gegeben.




Ein neuer Verschleppungstrick in der maze-
donischen Frage.
(Orig.-Korr.)

Schier
unerschöpflich ist der Erfindungsgeist der Männer in der
engeren Umgebung des Sultans, wenn es sich darum handelt,
den Mächten -- eine Nase zu drehen. Die Protestnoten, in
denen die in Konstantinopel akkreditierten Gesandten die
Durchführung von Reformen in Mazedonien, die immer
wieder hinausgeschoben wird, verlangten, waren in der letzten
Zeit so häufig geworden, daß irgendetwas zur Beschwichtigung
der europäischen Meinung geschehen mußte. Die türkische
Regierung hat nun beschlossen, eine Volkszählung in Maze-
donien vorzunehmen, um zunächst einmal festzustellen, inwie-
[Spaltenumbruch] weit die religiösen und nationalen Ansprüche der verschiedenen
in der Provinz ansässigen Völkerschaften Berücksichtigung
verdienen. Jeder Kenner des mazedonischen Problems be-
greift ohne Weiteres, wie viel von einer solchen Volkszählung
abhängig ist. Sowohl von griechischer als auch von
bulgarischer Seite ist in der letzten Zeit wiederholt der
Versuch gemacht worden, durch Heranziehung von Ziffern
die in der Tat nur oberflächliche Schätzungen waren, den
Anspruch des einen oder anderen Volksstammes auf die
Vorherrschaft in Mazedonien zu begründen. Genaue Daten
über die Verteilung der Nationen suchen aber auch die Ver-
treter der Mächte schon seit längerer Zeit zu erhalten, und
unter ihnen tauchte wohl zuerst der Plan auf, eine Volks-
zählung zu veranstalten, um auf der durch sie geschaffenen
Grundlage einige Ordnung in die Verwaltung des Landes
zu bringen. Dadurch, daß nun die Pforte den Vorschlägen
der Mächte zuvorkommt, hat sie gewissermaßen zwei Fliegen
mit einem Schlage getroffen. Sie kann den europäischen
Staaten wieder einmal ihren Reformdrang und ihre Bereit-
willigkeit zur Herstellung geordneter Verhältnisse im günstigsten
Licht darstellen, andrerseits hat sie die Möglichkeit, die
Zählung nach bewährter türkischer Methode vorzunehmen,
das heißt durch eine falsche Darstellung der Verhältnisse
das an sich nicht einfache Problem noch weiter zu verwirren.
Sehr wahrscheinlich ist es, daß die Türkei alle Anhänger
des Propheten ohne Rücksicht auf ihre Nationalität zu einer
Zahlengruppe vereinigen wird, während sie die Christen vor-
aussichtlich nach ihren religiösen Schattierungen und natio-
nalen Unterschieden zu sondern gedenkt. Das würde natürlich
ein ganz verkehrtes Bild geben, mit dem sich aber seitens
der Pforte trefflich operieren ließe. Der europäischen Diplo-
matie bliebe es dann vorbehalten, die Resultate der türkischen
Zählung noch einmal zu überprüfen, zu diesem Zweck eine
Kommission einzusetzen, etc. etc., kurz, die Reformpolitik wäre
wieder einmal auf einem toten Punkt angelangt. So weit
aber sind wir vorläufig noch nicht. Noch ist es den Mächten
möglich, an die Pforte das Verlangen zu stellen, daß die
Zählung, von deren Resultaten vielleicht das ganze künftige
Schicksal Mazedoniens abhängt, unter europäischer Kontrolle
stattfinde. Eine solche Forderung bedeutet zwar ein ziemlich
starkes Mißtrauensvotum in die Tätigkeit der türkischen
Behörden, aber die Regierung des Sultans hat wohl keinen
Anspruch darauf, daß auf ihre Empfindlichkeit nach der
Richtung hin auch nur die geringste Rücksicht genommen wird.




Bunte Chronik.


Die Manöver in Südtirol.

Aus Bozen wird der
"Korr. Wilhelm" gemeldet: Den größten Uebungen in Süd-
tirol wird heuer Se. Majestät der Kaiser beiwohnen. Das
Operationsterrain ist im großen und ganzen das Nonstal, das
sich mit seinen Seitentälern bis in die Eiswildnisse der Pre-
sanella- und Ortler-Gruppe verzweigt. Als Hauptquartier des
Monarchen wurde die Ortschaft Romeno, südwestlich des
Mendel-Passes, bestimmt. Der Ort mit 130 Häusern und 900
Einwohnern liegt 962 Meter über der Adria und ist mittels
Postwagen von der Station Mendel in einer Stunde
zu erreichen. Eine Hof- und Militär-Kommission hat bereits
im Mai d. J. in dieser Station die Ouartiere für Se. Ma-
jestät den Kaiser und Ihre k. u. k. Hoheiten die durchlauch-
tigsten Herren Erzherzoge Franz Ferdinand. Fried-
rich
und Rainer bestimmt. Die Manöver-Uebungsleitung
wird in Cavareno. eine Viertelstunde von Romeno entfernt,
untergebracht sein. Das Eintreffen Sr. Majestät des Kaisers
in Bozen wird am 27. August d. J. früh erwartet. Die
Manöver dürften in die Zeit vom 25. bis 31. August fallen.

Friedliches aus Rußland.

Es wird manchem über-
raschend wie auch wohltuend sein, aus Rußland der Abwechs-
lung halber auch einmal von etwas anderem als von Kata-
strophen zu hören. Man berichtet aus St. Petersburg vom
3. Juli: Im Laufe dieser Woche werden zwischen Petersburg
und Moskau telegraphische Versuche mit dem G. G. Pickart'schen
System angestellt werden, das darin besteht, daß die Depesche
in einen Phonographen hineingesprochen wird. Die
Vibration der Glimmerplatte in der Membrane am Ende des
Trichters teilt sich vermittels einer Feder einem Stift mit, der
das Oeffnen und Schließen des Stroms, wie beim Telegraphen
besorgt. Auf der Empfrngsstation ruft das Oeffnen und
Schließen des Stroms eine entsprechende Bewegung des
Elektromagneten hervor, an dessen Hebel ein Stift befestigt
ist, der die wächserne Fläche einer phonographischen Walze be-
schreibt. Hierauf reproduziert die Walze nach dem aufgezeich-
neten Phonogramm den Wortlaut der Depesche. -- Aus den
in letzter Zeit so oft genannten Putilow-Werken wird ferner
berichtet: Auf den Putilow-Werken wird eben das Rotations-
aerophon genannte, angeblich lenkbare Luftschiff hergestellt, das
von Ingenieur Lipkowski erfunden worden ist. Der Apparat
wird Ende August fertiggestellt sein, und es werden dann so-
gleich Versuche mit ihm angestellt werden. Die Tragkraft des
Apparats beträgt über 240 russische Pfund.

Die Friedensverhandlungen auf dem Wasser.

Eine ganz nagelneue und wirklich brillante Idee ist in Was-
hington bezüglich der russisch-japanischen Friedensverhandlungen
aufgetaucht. Man hatte bekanntlich anfangs gezögert, Washington
für die Verhandlungen zu bestimmen, weil das Sommerklima

12. Juli 1905. Czernowitzer Allgemeine Zeitung.

[Spaltenumbruch]

(Gonvernement Wladimir.) Geſtern
zerſtörten ausſtändige Arbeiter die Telephon- und
Telegraphenleitungen, plünderten Läden und legten mehrfach
Feuer an. Die Bevölkerung verläßt den Ort. (zirka 15.000
Einwohner.)

Die Urſachen der Meuterei.

In Konſtanza erklärte der Matroſe
Matuſchenko vom „Potemkin“, der der eigentliche Leiter der
Meuterei geweſen iſt, er ſei ſchon vorher als Arbeiter
bewußter Sozialdemokrat geweſen. Als Matroſe gehörte er
der ſozial-revolutionären Organiſation an und hatte auf dem
„Potemkin“ eifrige Propapanda entwickelt. Nur er und einige
Kameraden wußten, daß eine allgemeine Revolte des Ge-
ſchwaders beabſichtigt ſei. Verabredet war ein gewiſſes
Zeichen, daß ein Schiff, das er nicht nennen will, geben
ſollte. Da geſchah es, daß der zweite Kapitän Giliarowski
den Matroſen Vakuliliniciuk, der namens der Mannſchaft
über ſchlechte Beköſtigung klagte, erſchoß. Blind vor Empörung
ergriff Matuſchenko ſein Gewehr und ſchoß Giliarowski nieder.
Dies war das Zeichen für die allgemeine Meuterei. Der erſte
Kapitän Golikow wurde gleichfalls getötet, Leutnant Minior
feuerte zwei Revolverſchüſſe gegen Matuſchenko, die ihn dicht
unter der Schläfe ſtreiften und Zeichen hinterließen, die noch
jetzt ſichtbar ſind. Darauf übernahm Matuſchenko und einige
Genoſſen die Leitung des Schiffes. Munition war im
Ueberfluß vorhanden. Sie fuhren nach Odeſſa. Es ſei
unwahr, daß Matuſchenko die Disziplin der Beſatzung mit
ſtrengen Mitteln habe erhalten müſſen; er hatte genügend
moraliſchen Einfluß. Alle Mann waren eifrig auf ihrem
Platz. Schließlich fehlte aber Kohle und Waſſer. Die
Maſchinen wurden mit Seewaſſer geſpeiſt, wodurch ein Teil
der Keſſel defekt wurde. Die Mannſchaft wollte Städte nicht
beſchießen, aber wenn die Schwarzmeerflotte angegriffen
hätte, ſo wäre eine Schlacht unvermeidlich geweſen; die
Kanonen waren geladen.

Wie der in Odeſſa weilende
Prieſter des Rebellenſchiffes „Potemkin“ erzählt, haben ſich
entſetzliche Szenen, die jeder Beſchreibung ſpotten, bei der
Meuterei zugetragen. So wurde der verwundete Kommandeur
und die Mehrzahl der bleſſierten Offiziere lebendig über
Bord geworfen, doch blieben noch 11 Offiziere übrig, die von
der Beſatzung aus der Kajüte auf Deck berufen wurden.
Dieſen wurde bedeutet, daß ſie ſich als Kriegsgefangene zu be-
trachten hätten. Darauf ſprangen 6 von ihnen über Bord, wurden
jedoch, als ſie wieder an die Oberfläche des Meeres kamen,
von den Matoſen erſchoſſen. Die übrigen fünf wurden zum
Tode verurteilt, aber von dem Rebellen-Kommandeur
Fähnrich Alexejew begnadigt und in Odeſſa ans Land
geſetzt. Unter den mit knapper Not dem Tode Entronnenen
befand ſich der Oberſt Schulz vom Techniſchen Komitee der
Artillerie-Abteilung, der auf den „Knjäs Potemkin“ kom-
mandiert war.

Das ruſſiſche Torpedoboot „267“.

Die Mannſchaft des von Konſtanza
nach Sebaſtopol abgegangenen Torpedoboots „267“ hofft,
wie ſie vor ihrer Abfahrt erklärte, auf milde Behandlung
weil ſie von der Mannſchaft des „Potemkin“ terroriſiert
worden ſei. Sie ſcheint die Tragweite ihres Handelns nicht
zu begreifen.

Das Briefgeheimnis.

Die im größten Maßſtabe von
der ruſſiſchen Regierung betriebene Verletzung des Briefge-
heimniſſes iſt von ihr zu wiederholten Malen zugegeben
worden, wobei die angegebene Zahl der geöffneten Briefe
in die Zehntauſende ſtieg. Um nicht mit gewiſſen Paragraphen
der Berner Konvention in offenen Konflikt zu kommen, wurde
vor Kurzem ein Geſetz erlaſſen, das außerhalb Rußlands in
ruſſiſcher Sprache gedruckte Schriften mit einem hohen Zoll
belegt. Auf der Suche nach ſolchen verzollbaren Druckſachen
kann jeder Brief aus dem Auslande unbeanſtandet geöffnet
werden. Beim umgekehrten Fall, d. h. wenn ein Brief aus
Rußland ins Ausland befördert wird und dieſer famoſe Zoll-
paragraph ſich nicht in Anwendung bringen läßt, iſt das
Verfahren noch einfacher, da es ja ſonſt gut wie gar keine
Kläger geben kann, denn die Klage eines ruſſiſchen Untertans
wird nicht berückſichtigt und einem Ausländer zahlt man
ſchlimmſtenfalls für einen verloren gegangenen eingeſchriebenen
Brief die 10 Rubel Erſatz, falls er klagbar zu werden
Geduld und Energie haben ſollte. Für nicht eingeſchriebene
Briefe übernimmt die ruſſiſche Poſt nicht die geringſte Ver-
antwortung. Der Briefverluſt in Rußland iſt denn auch ein
maſſenhafter, aber die Verletzung des Briefgeheimniſſes ent-
ſpricht allem Möglichen, nur nicht ihrem eigenen Zweck der
politiſchen Spionage nämlich, da die ruſſiſche freiheitliche
Bewegung längſt andere ſichere Wege und Mittel gefunden hat,
um ihre Korreſpondenz zu befördern, die ſchon längſt nicht mehr
der ohnehin wenig zuverläſſigen ruſſiſchen Poſt anvertraut wird.
[Spaltenumbruch] Trotzdem erſetzt das Petersburger Zollamt eine neue Vorſchrift an
die Zollbeamten, in der dieſe angehalten werden, aus dem Auslande
einlaufende Bücher aufs genaueſte zu unterſuchen, ehe ſie dieſe
an die Zenſur weitergeben. Alſo doppelte Kontrolle. Zuerſt
wird der Zollbeamte jedes Buch mit wenig ſauberen Händen
durchblättern, dann kommt es in die Hände des Zenſors der
ungeniert und ungeſtraft auch das koſtbare Werk mit ſeinem
Blauſtift verdirbt, um anzuzeigen, daß es geſtattet iſt. Zähne-
knirſchend ſieht der Bücherfreund das ominöſe „P“ des
Zenſors, das ſich durch keinen Radiergummi wieder vom
Tittelblatt oder Umſchlag entfernen läßt, auf ſeinen Büchern,
ganz abgeſehen von dem übrigen Vandalismus der Zenſur,
die mit ſchwarzer klebriger Tünche und mit der Schere auch
das ſeltenſte Prachtwerk bearbeitet, wenn eine Seite, ja eine
Zeile bloß ihr nicht konveniert. Dieſe lächerliche Barbarei,
die nicht im geringſten ihren Zweck erreicht, wohl aber
Empörung hervorruft, trägt natürlich dem Regime mehr als
einen Feind ein, unter denen, die unter der zyniſchen Borniert-
heit dieſer Maßregeln zu leiden haben.

Die Ausſichten der ruſſiſchen Preſſe. (Orig.-Korr.)

Es kann
keinem Zweifel mehr unterliegen, daß die Tätigkeit der
Kommiſſion Kobeko, die Vorſchläge zur Preßreform machen
ſollte, der Regierung auch nicht den mindeſten Anſtoß zu
einer freieren Auffaſſung ihrer Stellung zu den Organen der
öffentlichen Meinung gegeben hat. Die Unterdrückung von
Blättern wie „Ruß“, „Wetſchernaja Potſchta“, „Rußkaja
Mysl“ zeigt, daß mit dem gegenwärtigen Syſtem der
Zwangsbehandlung vorläufig nicht gebrochen werden ſoll.
Dagegen heißt es, daß Schipow, der neuerdings ſehr ernſthaft
als Nachfolger des „amtsmüden“ Bulygin in der Leitung
des Miniſteriums des Innern genannt wird, die Gewährung
der Preßfreiheit als Bedingung für eine etwaige Ueber-
nahme des Portefeuilles aufgeſtellt habe. Schipow gehörte
bekanntlich zu jenen Semſtwomitgliedern, die ſich prinzipiell
gegen die Verfaſſungsidee ausſprachen und dadurch die
Sympathie der Regierung erwarben. Erſt im Mai ſchloß
er ſich der verfaſſungsfreundlichen Majorität an und gilt
nun als eine Art Politiker der mittleren Linie, der gewiſſe
Reformen befürworten würde, ohne mit dem alten Syſtem
ganz zu brechen. Ob die Preſſe von ihm tatſächlich viel zu
erwarten hat, muß noch bezweifelt werden.




Dom Tage.


Die Einigung zwiſchen Frankreich und
Deutſchland.

„Temps“ vervollſtändigt ſeine An-
gaben über das morgen in der Kammer zu verleſende deutſch-
franzöſiſche Schriftſtück. Die wichtigſte dieſer Angaben iſt,
daß das Dokument die Verträge nicht aufzählt, welche
Frankreich, Marokko betreffend, bis heute abgeſchloſſen hat.
Dieſe Verträge bleiben, weil ſie in den deutſch-franzöſiſchen
Verhandlungen außerhalb der Diskuſſion ſtanden, in der
Note unerwähnt, und dies gilt nicht allein von denjenigen
des Jahres 1904, ſondern auch von den vorangegangenen
Abmachungen der Jahre 1845, 1900 und 1901. Daraus
folgt, daß die Konferenz in dieſem Betracht vollkommen un-
beeinflußt entſcheiden wird, welche Reformen kraft des von
niemand auch von Deutſchland nicht beſtrittenen Vorzugs-
rechtes Frankreich zur Durchführung ſollen übertragen werden.
In der Note werden Frankreichs Sonderintereſſen nicht bloß
damit begründet, daß es eine ausgedehnte Grenze zu ſchützen
hat, ſondern auch mit der Notwendigkeit, die muſelmaniſche
Bevölkerung Algeriens vor ſtörenden marokkaniſchen Einflüſſen
zu bewahren. Kurze Erwähnung finden in den einleitenden
Zeilen die drei Prinzipien, über welche Deutſchland und
Frankreich von Anbeginn einig geweſen, nämlich: Souveränität
des Sultans, Integrität Marokkos und die „offene Tür!“
Ein Datum für die Dauer der Handelsfreiheit iſt nicht an-
gegeben.




Ein neuer Verſchleppungstrick in der maze-
doniſchen Frage.
(Orig.-Korr.)

Schier
unerſchöpflich iſt der Erfindungsgeiſt der Männer in der
engeren Umgebung des Sultans, wenn es ſich darum handelt,
den Mächten — eine Naſe zu drehen. Die Proteſtnoten, in
denen die in Konſtantinopel akkreditierten Geſandten die
Durchführung von Reformen in Mazedonien, die immer
wieder hinausgeſchoben wird, verlangten, waren in der letzten
Zeit ſo häufig geworden, daß irgendetwas zur Beſchwichtigung
der europäiſchen Meinung geſchehen mußte. Die türkiſche
Regierung hat nun beſchloſſen, eine Volkszählung in Maze-
donien vorzunehmen, um zunächſt einmal feſtzuſtellen, inwie-
[Spaltenumbruch] weit die religiöſen und nationalen Anſprüche der verſchiedenen
in der Provinz anſäſſigen Völkerſchaften Berückſichtigung
verdienen. Jeder Kenner des mazedoniſchen Problems be-
greift ohne Weiteres, wie viel von einer ſolchen Volkszählung
abhängig iſt. Sowohl von griechiſcher als auch von
bulgariſcher Seite iſt in der letzten Zeit wiederholt der
Verſuch gemacht worden, durch Heranziehung von Ziffern
die in der Tat nur oberflächliche Schätzungen waren, den
Anſpruch des einen oder anderen Volksſtammes auf die
Vorherrſchaft in Mazedonien zu begründen. Genaue Daten
über die Verteilung der Nationen ſuchen aber auch die Ver-
treter der Mächte ſchon ſeit längerer Zeit zu erhalten, und
unter ihnen tauchte wohl zuerſt der Plan auf, eine Volks-
zählung zu veranſtalten, um auf der durch ſie geſchaffenen
Grundlage einige Ordnung in die Verwaltung des Landes
zu bringen. Dadurch, daß nun die Pforte den Vorſchlägen
der Mächte zuvorkommt, hat ſie gewiſſermaßen zwei Fliegen
mit einem Schlage getroffen. Sie kann den europäiſchen
Staaten wieder einmal ihren Reformdrang und ihre Bereit-
willigkeit zur Herſtellung geordneter Verhältniſſe im günſtigſten
Licht darſtellen, andrerſeits hat ſie die Möglichkeit, die
Zählung nach bewährter türkiſcher Methode vorzunehmen,
das heißt durch eine falſche Darſtellung der Verhältniſſe
das an ſich nicht einfache Problem noch weiter zu verwirren.
Sehr wahrſcheinlich iſt es, daß die Türkei alle Anhänger
des Propheten ohne Rückſicht auf ihre Nationalität zu einer
Zahlengruppe vereinigen wird, während ſie die Chriſten vor-
ausſichtlich nach ihren religiöſen Schattierungen und natio-
nalen Unterſchieden zu ſondern gedenkt. Das würde natürlich
ein ganz verkehrtes Bild geben, mit dem ſich aber ſeitens
der Pforte trefflich operieren ließe. Der europäiſchen Diplo-
matie bliebe es dann vorbehalten, die Reſultate der türkiſchen
Zählung noch einmal zu überprüfen, zu dieſem Zweck eine
Kommiſſion einzuſetzen, ꝛc. ꝛc., kurz, die Reformpolitik wäre
wieder einmal auf einem toten Punkt angelangt. So weit
aber ſind wir vorläufig noch nicht. Noch iſt es den Mächten
möglich, an die Pforte das Verlangen zu ſtellen, daß die
Zählung, von deren Reſultaten vielleicht das ganze künftige
Schickſal Mazedoniens abhängt, unter europäiſcher Kontrolle
ſtattfinde. Eine ſolche Forderung bedeutet zwar ein ziemlich
ſtarkes Mißtrauensvotum in die Tätigkeit der türkiſchen
Behörden, aber die Regierung des Sultans hat wohl keinen
Anſpruch darauf, daß auf ihre Empfindlichkeit nach der
Richtung hin auch nur die geringſte Rückſicht genommen wird.




Bunte Chronik.


Die Manöver in Südtirol.

Aus Bozen wird der
„Korr. Wilhelm“ gemeldet: Den größten Uebungen in Süd-
tirol wird heuer Se. Majeſtät der Kaiſer beiwohnen. Das
Operationsterrain iſt im großen und ganzen das Nonstal, das
ſich mit ſeinen Seitentälern bis in die Eiswildniſſe der Pre-
ſanella- und Ortler-Gruppe verzweigt. Als Hauptquartier des
Monarchen wurde die Ortſchaft Romeno, ſüdweſtlich des
Mendel-Paſſes, beſtimmt. Der Ort mit 130 Häuſern und 900
Einwohnern liegt 962 Meter über der Adria und iſt mittels
Poſtwagen von der Station Mendel in einer Stunde
zu erreichen. Eine Hof- und Militär-Kommiſſion hat bereits
im Mai d. J. in dieſer Station die Ouartiere für Se. Ma-
jeſtät den Kaiſer und Ihre k. u. k. Hoheiten die durchlauch-
tigſten Herren Erzherzoge Franz Ferdinand. Fried-
rich
und Rainer beſtimmt. Die Manöver-Uebungsleitung
wird in Cavareno. eine Viertelſtunde von Romeno entfernt,
untergebracht ſein. Das Eintreffen Sr. Majeſtät des Kaiſers
in Bozen wird am 27. Auguſt d. J. früh erwartet. Die
Manöver dürften in die Zeit vom 25. bis 31. Auguſt fallen.

Friedliches aus Rußland.

Es wird manchem über-
raſchend wie auch wohltuend ſein, aus Rußland der Abwechs-
lung halber auch einmal von etwas anderem als von Kata-
ſtrophen zu hören. Man berichtet aus St. Petersburg vom
3. Juli: Im Laufe dieſer Woche werden zwiſchen Petersburg
und Moskau telegraphiſche Verſuche mit dem G. G. Pickart’ſchen
Syſtem angeſtellt werden, das darin beſteht, daß die Depeſche
in einen Phonographen hineingeſprochen wird. Die
Vibration der Glimmerplatte in der Membrane am Ende des
Trichters teilt ſich vermittels einer Feder einem Stift mit, der
das Oeffnen und Schließen des Stroms, wie beim Telegraphen
beſorgt. Auf der Empfrngsſtation ruft das Oeffnen und
Schließen des Stroms eine entſprechende Bewegung des
Elektromagneten hervor, an deſſen Hebel ein Stift befeſtigt
iſt, der die wächſerne Fläche einer phonographiſchen Walze be-
ſchreibt. Hierauf reproduziert die Walze nach dem aufgezeich-
neten Phonogramm den Wortlaut der Depeſche. — Aus den
in letzter Zeit ſo oft genannten Putilow-Werken wird ferner
berichtet: Auf den Putilow-Werken wird eben das Rotations-
aerophon genannte, angeblich lenkbare Luftſchiff hergeſtellt, das
von Ingenieur Lipkowski erfunden worden iſt. Der Apparat
wird Ende Auguſt fertiggeſtellt ſein, und es werden dann ſo-
gleich Verſuche mit ihm angeſtellt werden. Die Tragkraft des
Apparats beträgt über 240 ruſſiſche Pfund.

Die Friedensverhandlungen auf dem Waſſer.

Eine ganz nagelneue und wirklich brillante Idee iſt in Waſ-
hington bezüglich der ruſſiſch-japaniſchen Friedensverhandlungen
aufgetaucht. Man hatte bekanntlich anfangs gezögert, Waſhington
für die Verhandlungen zu beſtimmen, weil das Sommerklima

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[3/0003] 12. Juli 1905. Czernowitzer Allgemeine Zeitung. Iwanowo, 9. Juli. (Gonvernement Wladimir.) Geſtern zerſtörten ausſtändige Arbeiter die Telephon- und Telegraphenleitungen, plünderten Läden und legten mehrfach Feuer an. Die Bevölkerung verläßt den Ort. (zirka 15.000 Einwohner.) Die Urſachen der Meuterei. Bukareſt, 10. Juli. In Konſtanza erklärte der Matroſe Matuſchenko vom „Potemkin“, der der eigentliche Leiter der Meuterei geweſen iſt, er ſei ſchon vorher als Arbeiter bewußter Sozialdemokrat geweſen. Als Matroſe gehörte er der ſozial-revolutionären Organiſation an und hatte auf dem „Potemkin“ eifrige Propapanda entwickelt. Nur er und einige Kameraden wußten, daß eine allgemeine Revolte des Ge- ſchwaders beabſichtigt ſei. Verabredet war ein gewiſſes Zeichen, daß ein Schiff, das er nicht nennen will, geben ſollte. Da geſchah es, daß der zweite Kapitän Giliarowski den Matroſen Vakuliliniciuk, der namens der Mannſchaft über ſchlechte Beköſtigung klagte, erſchoß. Blind vor Empörung ergriff Matuſchenko ſein Gewehr und ſchoß Giliarowski nieder. Dies war das Zeichen für die allgemeine Meuterei. Der erſte Kapitän Golikow wurde gleichfalls getötet, Leutnant Minior feuerte zwei Revolverſchüſſe gegen Matuſchenko, die ihn dicht unter der Schläfe ſtreiften und Zeichen hinterließen, die noch jetzt ſichtbar ſind. Darauf übernahm Matuſchenko und einige Genoſſen die Leitung des Schiffes. Munition war im Ueberfluß vorhanden. Sie fuhren nach Odeſſa. Es ſei unwahr, daß Matuſchenko die Disziplin der Beſatzung mit ſtrengen Mitteln habe erhalten müſſen; er hatte genügend moraliſchen Einfluß. Alle Mann waren eifrig auf ihrem Platz. Schließlich fehlte aber Kohle und Waſſer. Die Maſchinen wurden mit Seewaſſer geſpeiſt, wodurch ein Teil der Keſſel defekt wurde. Die Mannſchaft wollte Städte nicht beſchießen, aber wenn die Schwarzmeerflotte angegriffen hätte, ſo wäre eine Schlacht unvermeidlich geweſen; die Kanonen waren geladen. Petersburg, 10. Juli. Wie der in Odeſſa weilende Prieſter des Rebellenſchiffes „Potemkin“ erzählt, haben ſich entſetzliche Szenen, die jeder Beſchreibung ſpotten, bei der Meuterei zugetragen. So wurde der verwundete Kommandeur und die Mehrzahl der bleſſierten Offiziere lebendig über Bord geworfen, doch blieben noch 11 Offiziere übrig, die von der Beſatzung aus der Kajüte auf Deck berufen wurden. Dieſen wurde bedeutet, daß ſie ſich als Kriegsgefangene zu be- trachten hätten. Darauf ſprangen 6 von ihnen über Bord, wurden jedoch, als ſie wieder an die Oberfläche des Meeres kamen, von den Matoſen erſchoſſen. Die übrigen fünf wurden zum Tode verurteilt, aber von dem Rebellen-Kommandeur Fähnrich Alexejew begnadigt und in Odeſſa ans Land geſetzt. Unter den mit knapper Not dem Tode Entronnenen befand ſich der Oberſt Schulz vom Techniſchen Komitee der Artillerie-Abteilung, der auf den „Knjäs Potemkin“ kom- mandiert war. Das ruſſiſche Torpedoboot „267“. Wien, 10. Juli. Die Mannſchaft des von Konſtanza nach Sebaſtopol abgegangenen Torpedoboots „267“ hofft, wie ſie vor ihrer Abfahrt erklärte, auf milde Behandlung weil ſie von der Mannſchaft des „Potemkin“ terroriſiert worden ſei. Sie ſcheint die Tragweite ihres Handelns nicht zu begreifen. Das Briefgeheimnis. Petersburg, 9. Juli. Die im größten Maßſtabe von der ruſſiſchen Regierung betriebene Verletzung des Briefge- heimniſſes iſt von ihr zu wiederholten Malen zugegeben worden, wobei die angegebene Zahl der geöffneten Briefe in die Zehntauſende ſtieg. Um nicht mit gewiſſen Paragraphen der Berner Konvention in offenen Konflikt zu kommen, wurde vor Kurzem ein Geſetz erlaſſen, das außerhalb Rußlands in ruſſiſcher Sprache gedruckte Schriften mit einem hohen Zoll belegt. Auf der Suche nach ſolchen verzollbaren Druckſachen kann jeder Brief aus dem Auslande unbeanſtandet geöffnet werden. Beim umgekehrten Fall, d. h. wenn ein Brief aus Rußland ins Ausland befördert wird und dieſer famoſe Zoll- paragraph ſich nicht in Anwendung bringen läßt, iſt das Verfahren noch einfacher, da es ja ſonſt gut wie gar keine Kläger geben kann, denn die Klage eines ruſſiſchen Untertans wird nicht berückſichtigt und einem Ausländer zahlt man ſchlimmſtenfalls für einen verloren gegangenen eingeſchriebenen Brief die 10 Rubel Erſatz, falls er klagbar zu werden Geduld und Energie haben ſollte. Für nicht eingeſchriebene Briefe übernimmt die ruſſiſche Poſt nicht die geringſte Ver- antwortung. Der Briefverluſt in Rußland iſt denn auch ein maſſenhafter, aber die Verletzung des Briefgeheimniſſes ent- ſpricht allem Möglichen, nur nicht ihrem eigenen Zweck der politiſchen Spionage nämlich, da die ruſſiſche freiheitliche Bewegung längſt andere ſichere Wege und Mittel gefunden hat, um ihre Korreſpondenz zu befördern, die ſchon längſt nicht mehr der ohnehin wenig zuverläſſigen ruſſiſchen Poſt anvertraut wird. Trotzdem erſetzt das Petersburger Zollamt eine neue Vorſchrift an die Zollbeamten, in der dieſe angehalten werden, aus dem Auslande einlaufende Bücher aufs genaueſte zu unterſuchen, ehe ſie dieſe an die Zenſur weitergeben. Alſo doppelte Kontrolle. Zuerſt wird der Zollbeamte jedes Buch mit wenig ſauberen Händen durchblättern, dann kommt es in die Hände des Zenſors der ungeniert und ungeſtraft auch das koſtbare Werk mit ſeinem Blauſtift verdirbt, um anzuzeigen, daß es geſtattet iſt. Zähne- knirſchend ſieht der Bücherfreund das ominöſe „P“ des Zenſors, das ſich durch keinen Radiergummi wieder vom Tittelblatt oder Umſchlag entfernen läßt, auf ſeinen Büchern, ganz abgeſehen von dem übrigen Vandalismus der Zenſur, die mit ſchwarzer klebriger Tünche und mit der Schere auch das ſeltenſte Prachtwerk bearbeitet, wenn eine Seite, ja eine Zeile bloß ihr nicht konveniert. Dieſe lächerliche Barbarei, die nicht im geringſten ihren Zweck erreicht, wohl aber Empörung hervorruft, trägt natürlich dem Regime mehr als einen Feind ein, unter denen, die unter der zyniſchen Borniert- heit dieſer Maßregeln zu leiden haben. Die Ausſichten der ruſſiſchen Preſſe. Petersburg, 8. Juli. (Orig.-Korr.) Es kann keinem Zweifel mehr unterliegen, daß die Tätigkeit der Kommiſſion Kobeko, die Vorſchläge zur Preßreform machen ſollte, der Regierung auch nicht den mindeſten Anſtoß zu einer freieren Auffaſſung ihrer Stellung zu den Organen der öffentlichen Meinung gegeben hat. Die Unterdrückung von Blättern wie „Ruß“, „Wetſchernaja Potſchta“, „Rußkaja Mysl“ zeigt, daß mit dem gegenwärtigen Syſtem der Zwangsbehandlung vorläufig nicht gebrochen werden ſoll. Dagegen heißt es, daß Schipow, der neuerdings ſehr ernſthaft als Nachfolger des „amtsmüden“ Bulygin in der Leitung des Miniſteriums des Innern genannt wird, die Gewährung der Preßfreiheit als Bedingung für eine etwaige Ueber- nahme des Portefeuilles aufgeſtellt habe. Schipow gehörte bekanntlich zu jenen Semſtwomitgliedern, die ſich prinzipiell gegen die Verfaſſungsidee ausſprachen und dadurch die Sympathie der Regierung erwarben. Erſt im Mai ſchloß er ſich der verfaſſungsfreundlichen Majorität an und gilt nun als eine Art Politiker der mittleren Linie, der gewiſſe Reformen befürworten würde, ohne mit dem alten Syſtem ganz zu brechen. Ob die Preſſe von ihm tatſächlich viel zu erwarten hat, muß noch bezweifelt werden. Dom Tage. Czernowitz, 11. Juli 1905. Die Einigung zwiſchen Frankreich und Deutſchland. Paris, 10. Juli. „Temps“ vervollſtändigt ſeine An- gaben über das morgen in der Kammer zu verleſende deutſch- franzöſiſche Schriftſtück. Die wichtigſte dieſer Angaben iſt, daß das Dokument die Verträge nicht aufzählt, welche Frankreich, Marokko betreffend, bis heute abgeſchloſſen hat. Dieſe Verträge bleiben, weil ſie in den deutſch-franzöſiſchen Verhandlungen außerhalb der Diskuſſion ſtanden, in der Note unerwähnt, und dies gilt nicht allein von denjenigen des Jahres 1904, ſondern auch von den vorangegangenen Abmachungen der Jahre 1845, 1900 und 1901. Daraus folgt, daß die Konferenz in dieſem Betracht vollkommen un- beeinflußt entſcheiden wird, welche Reformen kraft des von niemand auch von Deutſchland nicht beſtrittenen Vorzugs- rechtes Frankreich zur Durchführung ſollen übertragen werden. In der Note werden Frankreichs Sonderintereſſen nicht bloß damit begründet, daß es eine ausgedehnte Grenze zu ſchützen hat, ſondern auch mit der Notwendigkeit, die muſelmaniſche Bevölkerung Algeriens vor ſtörenden marokkaniſchen Einflüſſen zu bewahren. Kurze Erwähnung finden in den einleitenden Zeilen die drei Prinzipien, über welche Deutſchland und Frankreich von Anbeginn einig geweſen, nämlich: Souveränität des Sultans, Integrität Marokkos und die „offene Tür!“ Ein Datum für die Dauer der Handelsfreiheit iſt nicht an- gegeben. Ein neuer Verſchleppungstrick in der maze- doniſchen Frage. 1. Konſtantinopel, 7. Juli. (Orig.-Korr.) Schier unerſchöpflich iſt der Erfindungsgeiſt der Männer in der engeren Umgebung des Sultans, wenn es ſich darum handelt, den Mächten — eine Naſe zu drehen. Die Proteſtnoten, in denen die in Konſtantinopel akkreditierten Geſandten die Durchführung von Reformen in Mazedonien, die immer wieder hinausgeſchoben wird, verlangten, waren in der letzten Zeit ſo häufig geworden, daß irgendetwas zur Beſchwichtigung der europäiſchen Meinung geſchehen mußte. Die türkiſche Regierung hat nun beſchloſſen, eine Volkszählung in Maze- donien vorzunehmen, um zunächſt einmal feſtzuſtellen, inwie- weit die religiöſen und nationalen Anſprüche der verſchiedenen in der Provinz anſäſſigen Völkerſchaften Berückſichtigung verdienen. Jeder Kenner des mazedoniſchen Problems be- greift ohne Weiteres, wie viel von einer ſolchen Volkszählung abhängig iſt. Sowohl von griechiſcher als auch von bulgariſcher Seite iſt in der letzten Zeit wiederholt der Verſuch gemacht worden, durch Heranziehung von Ziffern die in der Tat nur oberflächliche Schätzungen waren, den Anſpruch des einen oder anderen Volksſtammes auf die Vorherrſchaft in Mazedonien zu begründen. Genaue Daten über die Verteilung der Nationen ſuchen aber auch die Ver- treter der Mächte ſchon ſeit längerer Zeit zu erhalten, und unter ihnen tauchte wohl zuerſt der Plan auf, eine Volks- zählung zu veranſtalten, um auf der durch ſie geſchaffenen Grundlage einige Ordnung in die Verwaltung des Landes zu bringen. Dadurch, daß nun die Pforte den Vorſchlägen der Mächte zuvorkommt, hat ſie gewiſſermaßen zwei Fliegen mit einem Schlage getroffen. Sie kann den europäiſchen Staaten wieder einmal ihren Reformdrang und ihre Bereit- willigkeit zur Herſtellung geordneter Verhältniſſe im günſtigſten Licht darſtellen, andrerſeits hat ſie die Möglichkeit, die Zählung nach bewährter türkiſcher Methode vorzunehmen, das heißt durch eine falſche Darſtellung der Verhältniſſe das an ſich nicht einfache Problem noch weiter zu verwirren. Sehr wahrſcheinlich iſt es, daß die Türkei alle Anhänger des Propheten ohne Rückſicht auf ihre Nationalität zu einer Zahlengruppe vereinigen wird, während ſie die Chriſten vor- ausſichtlich nach ihren religiöſen Schattierungen und natio- nalen Unterſchieden zu ſondern gedenkt. Das würde natürlich ein ganz verkehrtes Bild geben, mit dem ſich aber ſeitens der Pforte trefflich operieren ließe. Der europäiſchen Diplo- matie bliebe es dann vorbehalten, die Reſultate der türkiſchen Zählung noch einmal zu überprüfen, zu dieſem Zweck eine Kommiſſion einzuſetzen, ꝛc. ꝛc., kurz, die Reformpolitik wäre wieder einmal auf einem toten Punkt angelangt. So weit aber ſind wir vorläufig noch nicht. Noch iſt es den Mächten möglich, an die Pforte das Verlangen zu ſtellen, daß die Zählung, von deren Reſultaten vielleicht das ganze künftige Schickſal Mazedoniens abhängt, unter europäiſcher Kontrolle ſtattfinde. Eine ſolche Forderung bedeutet zwar ein ziemlich ſtarkes Mißtrauensvotum in die Tätigkeit der türkiſchen Behörden, aber die Regierung des Sultans hat wohl keinen Anſpruch darauf, daß auf ihre Empfindlichkeit nach der Richtung hin auch nur die geringſte Rückſicht genommen wird. Bunte Chronik. Czernowitz, 11. Juli 1905. Die Manöver in Südtirol. Aus Bozen wird der „Korr. Wilhelm“ gemeldet: Den größten Uebungen in Süd- tirol wird heuer Se. Majeſtät der Kaiſer beiwohnen. Das Operationsterrain iſt im großen und ganzen das Nonstal, das ſich mit ſeinen Seitentälern bis in die Eiswildniſſe der Pre- ſanella- und Ortler-Gruppe verzweigt. Als Hauptquartier des Monarchen wurde die Ortſchaft Romeno, ſüdweſtlich des Mendel-Paſſes, beſtimmt. Der Ort mit 130 Häuſern und 900 Einwohnern liegt 962 Meter über der Adria und iſt mittels Poſtwagen von der Station Mendel in einer Stunde zu erreichen. Eine Hof- und Militär-Kommiſſion hat bereits im Mai d. J. in dieſer Station die Ouartiere für Se. Ma- jeſtät den Kaiſer und Ihre k. u. k. Hoheiten die durchlauch- tigſten Herren Erzherzoge Franz Ferdinand. Fried- rich und Rainer beſtimmt. Die Manöver-Uebungsleitung wird in Cavareno. eine Viertelſtunde von Romeno entfernt, untergebracht ſein. Das Eintreffen Sr. Majeſtät des Kaiſers in Bozen wird am 27. Auguſt d. J. früh erwartet. Die Manöver dürften in die Zeit vom 25. bis 31. Auguſt fallen. Friedliches aus Rußland. Es wird manchem über- raſchend wie auch wohltuend ſein, aus Rußland der Abwechs- lung halber auch einmal von etwas anderem als von Kata- ſtrophen zu hören. Man berichtet aus St. Petersburg vom 3. Juli: Im Laufe dieſer Woche werden zwiſchen Petersburg und Moskau telegraphiſche Verſuche mit dem G. G. Pickart’ſchen Syſtem angeſtellt werden, das darin beſteht, daß die Depeſche in einen Phonographen hineingeſprochen wird. Die Vibration der Glimmerplatte in der Membrane am Ende des Trichters teilt ſich vermittels einer Feder einem Stift mit, der das Oeffnen und Schließen des Stroms, wie beim Telegraphen beſorgt. Auf der Empfrngsſtation ruft das Oeffnen und Schließen des Stroms eine entſprechende Bewegung des Elektromagneten hervor, an deſſen Hebel ein Stift befeſtigt iſt, der die wächſerne Fläche einer phonographiſchen Walze be- ſchreibt. Hierauf reproduziert die Walze nach dem aufgezeich- neten Phonogramm den Wortlaut der Depeſche. — Aus den in letzter Zeit ſo oft genannten Putilow-Werken wird ferner berichtet: Auf den Putilow-Werken wird eben das Rotations- aerophon genannte, angeblich lenkbare Luftſchiff hergeſtellt, das von Ingenieur Lipkowski erfunden worden iſt. Der Apparat wird Ende Auguſt fertiggeſtellt ſein, und es werden dann ſo- gleich Verſuche mit ihm angeſtellt werden. Die Tragkraft des Apparats beträgt über 240 ruſſiſche Pfund. Die Friedensverhandlungen auf dem Waſſer. Eine ganz nagelneue und wirklich brillante Idee iſt in Waſ- hington bezüglich der ruſſiſch-japaniſchen Friedensverhandlungen aufgetaucht. Man hatte bekanntlich anfangs gezögert, Waſhington für die Verhandlungen zu beſtimmen, weil das Sommerklima

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Zitationshilfe: Czernowitzer Allgemeine Zeitung. Nr. 458, Czernowitz, 12.07.1905, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_czernowitzer458_1905/3>, abgerufen am 26.04.2024.