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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Ehe und väterliche Gewalt.
falls keine Ehen zwischen Verwandten1). Die Koluschen, die in
die beiden Zweige des Raben und des Wolfes sich theilen, verbieten
alle Heirathen von Mitgliedern desselben Stammes2). Ganz im
gleichen Sinne verstatten die Arowaken in Südamerika keine Ver-
mählungen innerhalb ihrer Clanschaften3), und zwar gilt bei ihren
sorgfältig geführten Stammbäumen die Regel, dass die Kinder der
Mutter in Bezug auf ihre Stammesgenossenschaft folgen. Um auch
einige Beispiele aus Afrika anzuführen, bestrafen die Hottentotten
Blutschande mit dem Tode4), und ihre Nachbarn, die Kafirn be-
drohen mit Vermögensverlust die Heirath zwischen den entfernte-
sten Verwandten, verstatten übrigens die Doppelehe mit Schwe-
stern5). Die Fanneger endlich im westlichen Aequatorialafrika,
berüchtigte Menschenfresser, betrachten Ehen bei der geringsten
Blutnähe als Frevel und holen ihre Frauen stets aus einem andern
Stamm6). Andere, ebenfalls anthropophage Stämme, die Batta
auf Sumatra, bestrafen die Ehe zwischen Angehörigen der-
selben Horde mit dem Tode an beiden schuldigen Theilen7). Bei
den Hindu erstreckt sich das Verbot bis auf die sechste Stufe der
Verwandtschaft, ja die Gleichheit des Namens wird auch bei ihnen
als ausreichendes Ehehinderniss angesehen8). Das letztere gilt endlich
von den Chinesen9), welche sich als Nation Pih-sing, die hundert
Familien
nennen. Gleichwohl gibt es in neuerer Zeit 400 Fa-
miliennamen, welche letztere nicht von der Mutter, sondern wie
in Europa vom Vater ererbt werden. Ein amerikanischer Missionär
Namens Talmadge kannte ein Dorf, dessen 5000 Bewohner bis
auf wenige Ausnahmen denselben Familiennamen führten und die
deswegen unter sich keine Ehen schliessen durften10). Reste sol-
cher weiten Begriffe vom Incest haben sich bei solchen Völkern
erhalten, die dem Frauenraub huldigen, denn da Feindschaft ge-

1) Charlevoix, Nouv. France, tom. III, p. 284.
2) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 329.
3) Martius, Ethnographie. Bd. 1. S. 690.
4) Kolbe, Vorgebirge der Guten Hoffnung. S. 457.
5) Ausland 1859. S. 631.
6) Du Chaillu, Ashango-Land. p. 427.
7) Tylor, Urgeschichte. S. 359.
8) Colebrooke, Essays on the religion and philosophy of the Hindus.
London 1858. p. 142.
9) Huc, Das chinesische Reich. Bd. 2. S. 168.
10) Morgan, Systems of Consanguinity. Washington 1871. p. 418.

Ehe und väterliche Gewalt.
falls keine Ehen zwischen Verwandten1). Die Koluschen, die in
die beiden Zweige des Raben und des Wolfes sich theilen, verbieten
alle Heirathen von Mitgliedern desselben Stammes2). Ganz im
gleichen Sinne verstatten die Arowaken in Südamerika keine Ver-
mählungen innerhalb ihrer Clanschaften3), und zwar gilt bei ihren
sorgfältig geführten Stammbäumen die Regel, dass die Kinder der
Mutter in Bezug auf ihre Stammesgenossenschaft folgen. Um auch
einige Beispiele aus Afrika anzuführen, bestrafen die Hottentotten
Blutschande mit dem Tode4), und ihre Nachbarn, die Kafirn be-
drohen mit Vermögensverlust die Heirath zwischen den entfernte-
sten Verwandten, verstatten übrigens die Doppelehe mit Schwe-
stern5). Die Fanneger endlich im westlichen Aequatorialafrika,
berüchtigte Menschenfresser, betrachten Ehen bei der geringsten
Blutnähe als Frevel und holen ihre Frauen stets aus einem andern
Stamm6). Andere, ebenfalls anthropophage Stämme, die Batta
auf Sumatra, bestrafen die Ehe zwischen Angehörigen der-
selben Horde mit dem Tode an beiden schuldigen Theilen7). Bei
den Hindu erstreckt sich das Verbot bis auf die sechste Stufe der
Verwandtschaft, ja die Gleichheit des Namens wird auch bei ihnen
als ausreichendes Ehehinderniss angesehen8). Das letztere gilt endlich
von den Chinesen9), welche sich als Nation Pih-sing, die hundert
Familien
nennen. Gleichwohl gibt es in neuerer Zeit 400 Fa-
miliennamen, welche letztere nicht von der Mutter, sondern wie
in Europa vom Vater ererbt werden. Ein amerikanischer Missionär
Namens Talmadge kannte ein Dorf, dessen 5000 Bewohner bis
auf wenige Ausnahmen denselben Familiennamen führten und die
deswegen unter sich keine Ehen schliessen durften10). Reste sol-
cher weiten Begriffe vom Incest haben sich bei solchen Völkern
erhalten, die dem Frauenraub huldigen, denn da Feindschaft ge-

1) Charlevoix, Nouv. France, tom. III, p. 284.
2) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 329.
3) Martius, Ethnographie. Bd. 1. S. 690.
4) Kolbe, Vorgebirge der Guten Hoffnung. S. 457.
5) Ausland 1859. S. 631.
6) Du Chaillu, Ashango-Land. p. 427.
7) Tylor, Urgeschichte. S. 359.
8) Colebrooke, Essays on the religion and philosophy of the Hindus.
London 1858. p. 142.
9) Huc, Das chinesische Reich. Bd. 2. S. 168.
10) Morgan, Systems of Consanguinity. Washington 1871. p. 418.
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[234/0252] Ehe und väterliche Gewalt. falls keine Ehen zwischen Verwandten 1). Die Koluschen, die in die beiden Zweige des Raben und des Wolfes sich theilen, verbieten alle Heirathen von Mitgliedern desselben Stammes 2). Ganz im gleichen Sinne verstatten die Arowaken in Südamerika keine Ver- mählungen innerhalb ihrer Clanschaften 3), und zwar gilt bei ihren sorgfältig geführten Stammbäumen die Regel, dass die Kinder der Mutter in Bezug auf ihre Stammesgenossenschaft folgen. Um auch einige Beispiele aus Afrika anzuführen, bestrafen die Hottentotten Blutschande mit dem Tode 4), und ihre Nachbarn, die Kafirn be- drohen mit Vermögensverlust die Heirath zwischen den entfernte- sten Verwandten, verstatten übrigens die Doppelehe mit Schwe- stern 5). Die Fanneger endlich im westlichen Aequatorialafrika, berüchtigte Menschenfresser, betrachten Ehen bei der geringsten Blutnähe als Frevel und holen ihre Frauen stets aus einem andern Stamm 6). Andere, ebenfalls anthropophage Stämme, die Batta auf Sumatra, bestrafen die Ehe zwischen Angehörigen der- selben Horde mit dem Tode an beiden schuldigen Theilen 7). Bei den Hindu erstreckt sich das Verbot bis auf die sechste Stufe der Verwandtschaft, ja die Gleichheit des Namens wird auch bei ihnen als ausreichendes Ehehinderniss angesehen 8). Das letztere gilt endlich von den Chinesen 9), welche sich als Nation Pih-sing, die hundert Familien nennen. Gleichwohl gibt es in neuerer Zeit 400 Fa- miliennamen, welche letztere nicht von der Mutter, sondern wie in Europa vom Vater ererbt werden. Ein amerikanischer Missionär Namens Talmadge kannte ein Dorf, dessen 5000 Bewohner bis auf wenige Ausnahmen denselben Familiennamen führten und die deswegen unter sich keine Ehen schliessen durften 10). Reste sol- cher weiten Begriffe vom Incest haben sich bei solchen Völkern erhalten, die dem Frauenraub huldigen, denn da Feindschaft ge- 1) Charlevoix, Nouv. France, tom. III, p. 284. 2) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 329. 3) Martius, Ethnographie. Bd. 1. S. 690. 4) Kolbe, Vorgebirge der Guten Hoffnung. S. 457. 5) Ausland 1859. S. 631. 6) Du Chaillu, Ashango-Land. p. 427. 7) Tylor, Urgeschichte. S. 359. 8) Colebrooke, Essays on the religion and philosophy of the Hindus. London 1858. p. 142. 9) Huc, Das chinesische Reich. Bd. 2. S. 168. 10) Morgan, Systems of Consanguinity. Washington 1871. p. 418.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/252>, abgerufen am 30.04.2024.