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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Inseln ihre höchsten Eide schwuren und von dem Begeisterte frei-
willig als Opfer sich herabstürzten1). Wenn Pausanias Verehrung
von Steinen bei den Bewohnern Pharäs noch vorfand und ein
andres Mal äussert, in Vorzeiten hätten sämmtliche Hellenen statt
Bildern Steine verehrt2), jedoch hinzufügt, dass sie ihnen die
Namen ihrer vergötterten Naturkräfte beilegten, so ist es fraglich,
ob wir es hier mit einem echten oder auch nur mit der Hinter-
lassenschaft eines echten Steindienstes zu thun haben.

Hat die Verehrung von Steinen für deutsches Verständniss
etwas Fremdartiges, so regt sich viel beifälliger in uns das alte
Heidenblut, so oft wir vernehmen, dass Bäume oder Haine als
Gottheiten oder Sitze von Gottheiten aufgefasst wurden, denn
noch heute verstehen wir die Empfindungen unserer Voreltern,
als der heilige Bonifacius die Sachseneiche fällte. Das Flüstern
im stillen, das Rauschen im erregten Walde, das Brechen oder
Knarren des Holzes, der sichtliche Kampf einer entlaubten Krone
mit ihren knorrigen, gelenkreichen Aesten im Sturme erweckt die
Täuschung, als stehe man einer belebten Persönlichkeit gegenüber,
und nur allzu willig gönnen wir uns den Trug, übersinnlichen
Mächten uns physisch nähern zu dürfen. Ehemals war der Baum-
dienst über die ganze Erde verbreitet. Noch jetzt steht am Loch
Siant auf der schottischen Insel Skye ein Eichengehölz, von dem
seiner Heiligkeit wegen kein Zweig gebrochen werden darf3). Wo
eine Ceder im Föhrenwalde vereinzelt aufragt oder wo sieben
Lärchen eine Geschwistergruppe bilden, naht sich ihnen der Sa-
mojede in ehrfürchtiger Stimmung, dem Ostjaken wiederum sind
Bäume heilig, auf denen Adler mehrere Jahre nach einander ge-
nistet haben4). In den Hainen der Mundakhol, eines drawidischen
Volksstammes Indiens, darf kein Zweig verletzt werden5). Noch
jetzt trifft man jenseits des Jordans Bäume, von denen Weih-
geschenke, vorzüglich Haarflechten, herabwehen6). Auf seinem

1) Peschel, Zeitalter der Entdeckungen. S. 54.
2) Pausanias VII, 22, ed. Walz, tom. II, p. 615--616.
3) Sir John Lubbock, Origin of civilization. p. 192.
4) Castren, Ethnolog. Vorlesungen. S. 115. Pallas, Voyages, tom.
IV. p. 81.
5) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1871. S. 333.
6) Wolff, im Ausland 1872. S. 308.

Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Inseln ihre höchsten Eide schwuren und von dem Begeisterte frei-
willig als Opfer sich herabstürzten1). Wenn Pausanias Verehrung
von Steinen bei den Bewohnern Pharäs noch vorfand und ein
andres Mal äussert, in Vorzeiten hätten sämmtliche Hellenen statt
Bildern Steine verehrt2), jedoch hinzufügt, dass sie ihnen die
Namen ihrer vergötterten Naturkräfte beilegten, so ist es fraglich,
ob wir es hier mit einem echten oder auch nur mit der Hinter-
lassenschaft eines echten Steindienstes zu thun haben.

Hat die Verehrung von Steinen für deutsches Verständniss
etwas Fremdartiges, so regt sich viel beifälliger in uns das alte
Heidenblut, so oft wir vernehmen, dass Bäume oder Haine als
Gottheiten oder Sitze von Gottheiten aufgefasst wurden, denn
noch heute verstehen wir die Empfindungen unserer Voreltern,
als der heilige Bonifacius die Sachseneiche fällte. Das Flüstern
im stillen, das Rauschen im erregten Walde, das Brechen oder
Knarren des Holzes, der sichtliche Kampf einer entlaubten Krone
mit ihren knorrigen, gelenkreichen Aesten im Sturme erweckt die
Täuschung, als stehe man einer belebten Persönlichkeit gegenüber,
und nur allzu willig gönnen wir uns den Trug, übersinnlichen
Mächten uns physisch nähern zu dürfen. Ehemals war der Baum-
dienst über die ganze Erde verbreitet. Noch jetzt steht am Loch
Siant auf der schottischen Insel Skye ein Eichengehölz, von dem
seiner Heiligkeit wegen kein Zweig gebrochen werden darf3). Wo
eine Ceder im Föhrenwalde vereinzelt aufragt oder wo sieben
Lärchen eine Geschwistergruppe bilden, naht sich ihnen der Sa-
mojede in ehrfürchtiger Stimmung, dem Ostjaken wiederum sind
Bäume heilig, auf denen Adler mehrere Jahre nach einander ge-
nistet haben4). In den Hainen der Mundakhol, eines drawidischen
Volksstammes Indiens, darf kein Zweig verletzt werden5). Noch
jetzt trifft man jenseits des Jordans Bäume, von denen Weih-
geschenke, vorzüglich Haarflechten, herabwehen6). Auf seinem

1) Peschel, Zeitalter der Entdeckungen. S. 54.
2) Pausanias VII, 22, ed. Walz, tom. II, p. 615—616.
3) Sir John Lubbock, Origin of civilization. p. 192.
4) Castrén, Ethnolog. Vorlesungen. S. 115. Pallas, Voyages, tom.
IV. p. 81.
5) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1871. S. 333.
6) Wolff, im Ausland 1872. S. 308.
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[261/0279] Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. Inseln ihre höchsten Eide schwuren und von dem Begeisterte frei- willig als Opfer sich herabstürzten 1). Wenn Pausanias Verehrung von Steinen bei den Bewohnern Pharäs noch vorfand und ein andres Mal äussert, in Vorzeiten hätten sämmtliche Hellenen statt Bildern Steine verehrt 2), jedoch hinzufügt, dass sie ihnen die Namen ihrer vergötterten Naturkräfte beilegten, so ist es fraglich, ob wir es hier mit einem echten oder auch nur mit der Hinter- lassenschaft eines echten Steindienstes zu thun haben. Hat die Verehrung von Steinen für deutsches Verständniss etwas Fremdartiges, so regt sich viel beifälliger in uns das alte Heidenblut, so oft wir vernehmen, dass Bäume oder Haine als Gottheiten oder Sitze von Gottheiten aufgefasst wurden, denn noch heute verstehen wir die Empfindungen unserer Voreltern, als der heilige Bonifacius die Sachseneiche fällte. Das Flüstern im stillen, das Rauschen im erregten Walde, das Brechen oder Knarren des Holzes, der sichtliche Kampf einer entlaubten Krone mit ihren knorrigen, gelenkreichen Aesten im Sturme erweckt die Täuschung, als stehe man einer belebten Persönlichkeit gegenüber, und nur allzu willig gönnen wir uns den Trug, übersinnlichen Mächten uns physisch nähern zu dürfen. Ehemals war der Baum- dienst über die ganze Erde verbreitet. Noch jetzt steht am Loch Siant auf der schottischen Insel Skye ein Eichengehölz, von dem seiner Heiligkeit wegen kein Zweig gebrochen werden darf 3). Wo eine Ceder im Föhrenwalde vereinzelt aufragt oder wo sieben Lärchen eine Geschwistergruppe bilden, naht sich ihnen der Sa- mojede in ehrfürchtiger Stimmung, dem Ostjaken wiederum sind Bäume heilig, auf denen Adler mehrere Jahre nach einander ge- nistet haben 4). In den Hainen der Mundakhol, eines drawidischen Volksstammes Indiens, darf kein Zweig verletzt werden 5). Noch jetzt trifft man jenseits des Jordans Bäume, von denen Weih- geschenke, vorzüglich Haarflechten, herabwehen 6). Auf seinem 1) Peschel, Zeitalter der Entdeckungen. S. 54. 2) Pausanias VII, 22, ed. Walz, tom. II, p. 615—616. 3) Sir John Lubbock, Origin of civilization. p. 192. 4) Castrén, Ethnolog. Vorlesungen. S. 115. Pallas, Voyages, tom. IV. p. 81. 5) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1871. S. 333. 6) Wolff, im Ausland 1872. S. 308.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/279>, abgerufen am 30.04.2024.