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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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deshalb weit mehr herkömmliche Überlieferung zu verzeichnen haben ppe_169.002
als erlebte Selbstdarstellung, die viel mehr beim Humoristen sich ppe_169.003
findet. Die komische Wirkung pflegt im übrigen nicht so sehr aus ppe_169.004
der Anlage der Charaktere unmittelbar hervorzugehen als aus den ppe_169.005
Situationen und Motiven der Handlung.

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(Motive -- Wirklichkeitsauffassung -- Sprachform)
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a) Motive

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Das Motiv ist der meistgebrauchte und deshalb unklarste Begriff, ppe_169.010
der bei der Analyse sich einstellt. Kaum ein anderes Wort wird so ppe_169.011
unmotiviert zur Anwendung gebracht. Man hat es ein Schwammwort ppe_169.012
genannt, weil es alles aufsaugt und alles mit ihm sich ausdrücken läßt. ppe_169.013
Wenn in der Tat beinahe sämtliche Elemente des Gehaltes vom Stoff ppe_169.014
aufwärts zur Idee und auf der andern Seite nicht wenige Eigentümlichkeiten ppe_169.015
der Form als Motive bezeichnet worden sind, so hat zur ppe_169.016
Verwirrung auch die verschiedenartige Verwendung des Begriffes in ppe_169.017
anderen Künsten, in Architektur und Ornamentik, in Malerei und ppe_169.018
Musik, das ihrige beigetragen.

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mit kunstgeschichtlichem und künstlerischem Gebrauch, so kann sich ppe_169.021
eine Gleichsetzung von Motiv mit Bild und typischer Situation ergeben. ppe_169.022
Eine solche wäre etwa das Bild der klagenden Frau, der ein ppe_169.023
toter Mann im Schoß liegt. Das kann sowohl die Mutter Gottes mit ppe_169.024
dem Sohn als Sigune mit Schionatulander oder sogar die Matrone ppe_169.025
von Ephesus bedeuten. Merker möchte als Motiv die allgemeine ppe_169.026
thematische Vorstellung auffassen, während der Stoff die besondere ppe_169.027
Anwendungs- und Ausprägungsart darstelle. Aber wenn ein anonymer, ppe_169.028
nicht personifizierter, nicht lokalisierter, nicht zeitlich fixierter Stoff, ppe_169.029
dem die Problemstellung fehlt, gesucht wird, so käme nicht einmal ppe_169.030
eine Fabel zustande. Die körperliche Situation allein, die dagegen ppe_169.031
den bildenden Künstler zur Studie anregen kann, hat für das literarische ppe_169.032
Kunstwerk keine Bedeutung, wenn ihr jede seelische Beziehung ppe_169.033
abgeht. Und diese ist es, die wir als zugehörig zum literarischen ppe_169.034
Motiv betrachten müssen.

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Nach der Richtung des Seelischen hin können sich aber wieder ppe_169.036
Mißverständnisse ergeben, wenn man in Übereinstimmung mit der ppe_169.037
psychologischen Bedeutung das Motiv als Beweggrund und Antrieb ppe_169.038
zum Dichten auffaßt (Fr. Th. Vischer, Jean Paul, Jos. Körner,

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deshalb weit mehr herkömmliche Überlieferung zu verzeichnen haben ppe_169.002
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(Motive — Wirklichkeitsauffassung — Sprachform)
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Das Motiv ist der meistgebrauchte und deshalb unklarste Begriff, ppe_169.010
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Verwirrung auch die verschiedenartige Verwendung des Begriffes in ppe_169.017
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Musik, das ihrige beigetragen.

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Sucht man, wie es Paul Merker unternommen hat, Übereinstimmung ppe_169.020
mit kunstgeschichtlichem und künstlerischem Gebrauch, so kann sich ppe_169.021
eine Gleichsetzung von Motiv mit Bild und typischer Situation ergeben. ppe_169.022
Eine solche wäre etwa das Bild der klagenden Frau, der ein ppe_169.023
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den bildenden Künstler zur Studie anregen kann, hat für das literarische ppe_169.032
Kunstwerk keine Bedeutung, wenn ihr jede seelische Beziehung ppe_169.033
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Nach der Richtung des Seelischen hin können sich aber wieder ppe_169.036
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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/193>, abgerufen am 30.04.2024.