Pichler, Adolf: Der Flüchtling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 13. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–318. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.tiefer auf einem Steinblocke sitzen. Er prüfte die Entfernung, sie war noch zu groß, rasch sprang er an der abgewendeten Lehne bergab und schlich wieder vor, als er in gleicher Höhe mit seinem Gegner zu sein meinte. Dieser saß noch immer unbeweglich, Naz war so nahe, daß er das Weiße in dessen Aug' unterscheiden konnte. Lebendig oder todt galt gleich, warum sollte er sich in einen gefährlichen Kampf einlassen? Er riß den Stutzen von der Schulter, beugte sich vor und glitt aus. Die Kugel ging fehl und prallte flach an einem Steine in der Nähe von Klaus ab. Dieser war mit einem Satz in der Höhe, -- Naz konnte sich nicht verbergen. Bereits einmal waren sie sich auf Tod und Leben gegenüber, auch jetzt galt es Tod und Leben! Ohne sich zu besinnen, schlug Klaus an. -- Naz sank mit einem lauten Schrei in den Schnee. Klaus lief hinzu, Jener athmete nicht mehr, die Kugel hatte das Herz getroffen und die Rückenwirbel zerschmettert. Ein Strom lauen Blutes rieselte über den Schnee hinab. So schnell todt, daß er mir gar nicht einmal seine Beicht' auftragen kann! sagte er und betrachtete ihn, auf den Stutzen gestützt, eine Weile. Dann nahm er den Hut ab, kniete neben der Leiche nieder und betete für die abgeschiedene Seele ein andächtiges Vaterunser. Er blieb dabei so kalt und ruhig, daß er gar nicht einmal über Schuld und Unschuld nachdachte; ein Beweis dafür, wie wenig er sich im Unrecht wußte. Dann überblickte er die Gegend, tiefer auf einem Steinblocke sitzen. Er prüfte die Entfernung, sie war noch zu groß, rasch sprang er an der abgewendeten Lehne bergab und schlich wieder vor, als er in gleicher Höhe mit seinem Gegner zu sein meinte. Dieser saß noch immer unbeweglich, Naz war so nahe, daß er das Weiße in dessen Aug' unterscheiden konnte. Lebendig oder todt galt gleich, warum sollte er sich in einen gefährlichen Kampf einlassen? Er riß den Stutzen von der Schulter, beugte sich vor und glitt aus. Die Kugel ging fehl und prallte flach an einem Steine in der Nähe von Klaus ab. Dieser war mit einem Satz in der Höhe, — Naz konnte sich nicht verbergen. Bereits einmal waren sie sich auf Tod und Leben gegenüber, auch jetzt galt es Tod und Leben! Ohne sich zu besinnen, schlug Klaus an. — Naz sank mit einem lauten Schrei in den Schnee. Klaus lief hinzu, Jener athmete nicht mehr, die Kugel hatte das Herz getroffen und die Rückenwirbel zerschmettert. Ein Strom lauen Blutes rieselte über den Schnee hinab. So schnell todt, daß er mir gar nicht einmal seine Beicht' auftragen kann! sagte er und betrachtete ihn, auf den Stutzen gestützt, eine Weile. Dann nahm er den Hut ab, kniete neben der Leiche nieder und betete für die abgeschiedene Seele ein andächtiges Vaterunser. Er blieb dabei so kalt und ruhig, daß er gar nicht einmal über Schuld und Unschuld nachdachte; ein Beweis dafür, wie wenig er sich im Unrecht wußte. Dann überblickte er die Gegend, <TEI> <text> <body> <div n="6"> <p><pb facs="#f0070"/> tiefer auf einem Steinblocke sitzen. Er prüfte die Entfernung, sie war noch zu groß, rasch sprang er an der abgewendeten Lehne bergab und schlich wieder vor, als er in gleicher Höhe mit seinem Gegner zu sein meinte. Dieser saß noch immer unbeweglich, Naz war so nahe, daß er das Weiße in dessen Aug' unterscheiden konnte. Lebendig oder todt galt gleich, warum sollte er sich in einen gefährlichen Kampf einlassen? Er riß den Stutzen von der Schulter, beugte sich vor und glitt aus. Die Kugel ging fehl und prallte flach an einem Steine in der Nähe von Klaus ab. Dieser war mit einem Satz in der Höhe, — Naz konnte sich nicht verbergen. Bereits einmal waren sie sich auf Tod und Leben gegenüber, auch jetzt galt es Tod und Leben! Ohne sich zu besinnen, schlug Klaus an. — Naz sank mit einem lauten Schrei in den Schnee. Klaus lief hinzu, Jener athmete nicht mehr, die Kugel hatte das Herz getroffen und die Rückenwirbel zerschmettert. Ein Strom lauen Blutes rieselte über den Schnee hinab. So schnell todt, daß er mir gar nicht einmal seine Beicht' auftragen kann! sagte er und betrachtete ihn, auf den Stutzen gestützt, eine Weile. Dann nahm er den Hut ab, kniete neben der Leiche nieder und betete für die abgeschiedene Seele ein andächtiges Vaterunser. Er blieb dabei so kalt und ruhig, daß er gar nicht einmal über Schuld und Unschuld nachdachte; ein Beweis dafür, wie wenig er sich im Unrecht wußte. Dann überblickte er die Gegend,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0070]
tiefer auf einem Steinblocke sitzen. Er prüfte die Entfernung, sie war noch zu groß, rasch sprang er an der abgewendeten Lehne bergab und schlich wieder vor, als er in gleicher Höhe mit seinem Gegner zu sein meinte. Dieser saß noch immer unbeweglich, Naz war so nahe, daß er das Weiße in dessen Aug' unterscheiden konnte. Lebendig oder todt galt gleich, warum sollte er sich in einen gefährlichen Kampf einlassen? Er riß den Stutzen von der Schulter, beugte sich vor und glitt aus. Die Kugel ging fehl und prallte flach an einem Steine in der Nähe von Klaus ab. Dieser war mit einem Satz in der Höhe, — Naz konnte sich nicht verbergen. Bereits einmal waren sie sich auf Tod und Leben gegenüber, auch jetzt galt es Tod und Leben! Ohne sich zu besinnen, schlug Klaus an. — Naz sank mit einem lauten Schrei in den Schnee. Klaus lief hinzu, Jener athmete nicht mehr, die Kugel hatte das Herz getroffen und die Rückenwirbel zerschmettert. Ein Strom lauen Blutes rieselte über den Schnee hinab. So schnell todt, daß er mir gar nicht einmal seine Beicht' auftragen kann! sagte er und betrachtete ihn, auf den Stutzen gestützt, eine Weile. Dann nahm er den Hut ab, kniete neben der Leiche nieder und betete für die abgeschiedene Seele ein andächtiges Vaterunser. Er blieb dabei so kalt und ruhig, daß er gar nicht einmal über Schuld und Unschuld nachdachte; ein Beweis dafür, wie wenig er sich im Unrecht wußte. Dann überblickte er die Gegend,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/pichler_fluechtling_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/pichler_fluechtling_1910/70 |
Zitationshilfe: | Pichler, Adolf: Der Flüchtling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 13. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–318. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pichler_fluechtling_1910/70>, abgerufen am 17.06.2024. |