Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite

dieser "Herren", in deren unmittelbaren Dienst; andere hingen
als Pächter, Pfandinhaber einzelner Güter, als Schuldner
oder Gläubiger von ihnen ab; noch andere suchten und fanden
im Anschluß an sie den Weg emporzukommen, oder den
Schutz, den ihnen weder die Krone, noch die Gerichte, noch
irgend eine öffentliche Gewalt als solche gewährte 1). Denn
Gesetz und Recht waren längst zu todten Buchstaben geworden
und an deren Stelle, diesen Zuständen ganz entsprechend, die
"Protection" getreten. Auf allen Stufen der Gesellschaft, ketten-
artig von oben nach unten alle Stände und Klassen umfassend,
war sie die alles, die höchsten öffentlichen wie die niedrigsten
persönlichen Intressen, entscheidende Macht. Vom Könige und
dessen Regierung hatte der Massenadel nichts zu hoffen und
nichts zu fürchten; desto mehr aber von denen, deren Protec-
tion naturgemäß die weitreichendste, also gesuchteste war, von
den "Herren". Sie standen, jeder in seinem Kreise bald mehr,
bald weniger als Herrscher da, und fühlten und wußten sich
als solche sichrer als der gewählte König in Warschau. Wohl
redeten sie noch immer nach alter Sitte in den Versamm-
lungen aller Art den Massenadel als ihre "Herren Brüder"
an, aber daneben behandelten sie mit Stolz und Hochmuth,
ja mit offener Miß- und Verachtung den geringen Edelmann,

1) Auch diese Clientelverhältnisse waren gewöhnlich factisch erblich.
Die Eltern, welche im Dienst oder durch Anschluß an gewisse Herren-
geschlechter emporgekommen waren, gaben ihre Söhne und Töchter, sobald
sie das Kindesalter hinter sich hatten, zur Erziehung und Dienst an die
Höfe derselben Herren, welche oft ganze Schaaren solcher adlichen Jugend
auf ihre Kosten erzogen, die Töchter verheiratheten und die Söhne auf
mannichfaltige Weise versorgten. Sie liebten es, bei öffentlichen
Gelegenheiten in Mitte ihrer zahlreichen Hofleute, Diener und Clienten
zu erscheinen, welche zugleich für alle Fälle ihre schlagfertige Leibwache
waren. Als im Jahre 1778 Fürst Stanislaw Lubomirski, Woiwode von
Kiew, zum Landtage (seymik) nach Zytomierz kam und zur Eröffnung
desselben nach der Kathedrale fuhr, begleitete ihn eine Kavalkade von 85
Hofleuten, und hinter ihm folgten eben so viele Diener (pacholiki), alle zu
Pferde in prächtigen Kleidern und mit glänzendem Reitzeug. S. Ochocki,
Pamietniki I,
149. 150.

dieſer „Herren“, in deren unmittelbaren Dienſt; andere hingen
als Pächter, Pfandinhaber einzelner Güter, als Schuldner
oder Gläubiger von ihnen ab; noch andere ſuchten und fanden
im Anſchluß an ſie den Weg emporzukommen, oder den
Schutz, den ihnen weder die Krone, noch die Gerichte, noch
irgend eine öffentliche Gewalt als ſolche gewährte 1). Denn
Geſetz und Recht waren längſt zu todten Buchſtaben geworden
und an deren Stelle, dieſen Zuſtänden ganz entſprechend, die
„Protection“ getreten. Auf allen Stufen der Geſellſchaft, ketten-
artig von oben nach unten alle Stände und Klaſſen umfaſſend,
war ſie die alles, die höchſten öffentlichen wie die niedrigſten
perſönlichen Intreſſen, entſcheidende Macht. Vom Könige und
deſſen Regierung hatte der Maſſenadel nichts zu hoffen und
nichts zu fürchten; deſto mehr aber von denen, deren Protec-
tion naturgemäß die weitreichendſte, alſo geſuchteſte war, von
den „Herren“. Sie ſtanden, jeder in ſeinem Kreiſe bald mehr,
bald weniger als Herrſcher da, und fühlten und wußten ſich
als ſolche ſichrer als der gewählte König in Warſchau. Wohl
redeten ſie noch immer nach alter Sitte in den Verſamm-
lungen aller Art den Maſſenadel als ihre „Herren Brüder“
an, aber daneben behandelten ſie mit Stolz und Hochmuth,
ja mit offener Miß- und Verachtung den geringen Edelmann,

1) Auch dieſe Clientelverhältniſſe waren gewöhnlich factiſch erblich.
Die Eltern, welche im Dienſt oder durch Anſchluß an gewiſſe Herren-
geſchlechter emporgekommen waren, gaben ihre Söhne und Töchter, ſobald
ſie das Kindesalter hinter ſich hatten, zur Erziehung und Dienſt an die
Höfe derſelben Herren, welche oft ganze Schaaren ſolcher adlichen Jugend
auf ihre Koſten erzogen, die Töchter verheiratheten und die Söhne auf
mannichfaltige Weiſe verſorgten. Sie liebten es, bei öffentlichen
Gelegenheiten in Mitte ihrer zahlreichen Hofleute, Diener und Clienten
zu erſcheinen, welche zugleich für alle Fälle ihre ſchlagfertige Leibwache
waren. Als im Jahre 1778 Fürſt Stanislaw Lubomirski, Woiwode von
Kiew, zum Landtage (seymik) nach Zytomierz kam und zur Eröffnung
deſſelben nach der Kathedrale fuhr, begleitete ihn eine Kavalkade von 85
Hofleuten, und hinter ihm folgten eben ſo viele Diener (pacholiki), alle zu
Pferde in prächtigen Kleidern und mit glänzendem Reitzeug. S. Ochocki,
Pamiętniki I,
149. 150.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0022" n="8"/>
die&#x017F;er &#x201E;Herren&#x201C;, in deren unmittelbaren Dien&#x017F;t; andere hingen<lb/>
als Pächter, Pfandinhaber einzelner Güter, als Schuldner<lb/>
oder Gläubiger von ihnen ab; noch andere &#x017F;uchten und fanden<lb/>
im An&#x017F;chluß an &#x017F;ie den Weg emporzukommen, oder den<lb/>
Schutz, den ihnen weder die Krone, noch die Gerichte, noch<lb/>
irgend eine öffentliche Gewalt als &#x017F;olche gewährte <note place="foot" n="1)">Auch die&#x017F;e Clientelverhältni&#x017F;&#x017F;e waren gewöhnlich facti&#x017F;ch erblich.<lb/>
Die Eltern, welche im Dien&#x017F;t oder durch An&#x017F;chluß an gewi&#x017F;&#x017F;e Herren-<lb/>
ge&#x017F;chlechter emporgekommen waren, gaben ihre Söhne und Töchter, &#x017F;obald<lb/>
&#x017F;ie das Kindesalter hinter &#x017F;ich hatten, zur Erziehung und Dien&#x017F;t an die<lb/>
Höfe der&#x017F;elben Herren, welche oft ganze Schaaren &#x017F;olcher adlichen Jugend<lb/>
auf ihre Ko&#x017F;ten erzogen, die Töchter verheiratheten und die Söhne auf<lb/>
mannichfaltige Wei&#x017F;e ver&#x017F;orgten. Sie liebten es, bei öffentlichen<lb/>
Gelegenheiten in Mitte ihrer zahlreichen Hofleute, Diener und Clienten<lb/>
zu er&#x017F;cheinen, welche zugleich für alle Fälle ihre &#x017F;chlagfertige Leibwache<lb/>
waren. Als im Jahre 1778 Für&#x017F;t Stanislaw Lubomirski, Woiwode von<lb/>
Kiew, zum Landtage (<hi rendition="#aq">seymik</hi>) nach Zytomierz kam und zur Eröffnung<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben nach der Kathedrale fuhr, begleitete ihn eine Kavalkade von 85<lb/>
Hofleuten, und hinter ihm folgten eben &#x017F;o viele Diener <hi rendition="#aq">(pacholiki),</hi> alle zu<lb/>
Pferde in prächtigen Kleidern und mit glänzendem Reitzeug. S. <hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Ochocki</hi>,<lb/>
Pami&#x0119;tniki I,</hi> 149. 150.</note>. Denn<lb/>
Ge&#x017F;etz und Recht waren läng&#x017F;t zu todten Buch&#x017F;taben geworden<lb/>
und an deren Stelle, die&#x017F;en Zu&#x017F;tänden ganz ent&#x017F;prechend, die<lb/>
&#x201E;Protection&#x201C; getreten. Auf allen Stufen der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, ketten-<lb/>
artig von oben nach unten alle Stände und Kla&#x017F;&#x017F;en umfa&#x017F;&#x017F;end,<lb/>
war &#x017F;ie die alles, die höch&#x017F;ten öffentlichen wie die niedrig&#x017F;ten<lb/>
per&#x017F;önlichen Intre&#x017F;&#x017F;en, ent&#x017F;cheidende Macht. Vom Könige und<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Regierung hatte der Ma&#x017F;&#x017F;enadel nichts zu hoffen und<lb/>
nichts zu fürchten; de&#x017F;to mehr aber von denen, deren Protec-<lb/>
tion naturgemäß die weitreichend&#x017F;te, al&#x017F;o ge&#x017F;uchte&#x017F;te war, von<lb/>
den &#x201E;Herren&#x201C;. Sie &#x017F;tanden, jeder in &#x017F;einem Krei&#x017F;e bald mehr,<lb/>
bald weniger als Herr&#x017F;cher da, und fühlten und wußten &#x017F;ich<lb/>
als &#x017F;olche &#x017F;ichrer als der gewählte König in War&#x017F;chau. Wohl<lb/>
redeten &#x017F;ie noch immer nach alter Sitte in den Ver&#x017F;amm-<lb/>
lungen aller Art den Ma&#x017F;&#x017F;enadel als ihre &#x201E;Herren Brüder&#x201C;<lb/>
an, aber daneben behandelten &#x017F;ie mit Stolz und Hochmuth,<lb/>
ja mit offener Miß- und Verachtung den geringen Edelmann,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[8/0022] dieſer „Herren“, in deren unmittelbaren Dienſt; andere hingen als Pächter, Pfandinhaber einzelner Güter, als Schuldner oder Gläubiger von ihnen ab; noch andere ſuchten und fanden im Anſchluß an ſie den Weg emporzukommen, oder den Schutz, den ihnen weder die Krone, noch die Gerichte, noch irgend eine öffentliche Gewalt als ſolche gewährte 1). Denn Geſetz und Recht waren längſt zu todten Buchſtaben geworden und an deren Stelle, dieſen Zuſtänden ganz entſprechend, die „Protection“ getreten. Auf allen Stufen der Geſellſchaft, ketten- artig von oben nach unten alle Stände und Klaſſen umfaſſend, war ſie die alles, die höchſten öffentlichen wie die niedrigſten perſönlichen Intreſſen, entſcheidende Macht. Vom Könige und deſſen Regierung hatte der Maſſenadel nichts zu hoffen und nichts zu fürchten; deſto mehr aber von denen, deren Protec- tion naturgemäß die weitreichendſte, alſo geſuchteſte war, von den „Herren“. Sie ſtanden, jeder in ſeinem Kreiſe bald mehr, bald weniger als Herrſcher da, und fühlten und wußten ſich als ſolche ſichrer als der gewählte König in Warſchau. Wohl redeten ſie noch immer nach alter Sitte in den Verſamm- lungen aller Art den Maſſenadel als ihre „Herren Brüder“ an, aber daneben behandelten ſie mit Stolz und Hochmuth, ja mit offener Miß- und Verachtung den geringen Edelmann, 1) Auch dieſe Clientelverhältniſſe waren gewöhnlich factiſch erblich. Die Eltern, welche im Dienſt oder durch Anſchluß an gewiſſe Herren- geſchlechter emporgekommen waren, gaben ihre Söhne und Töchter, ſobald ſie das Kindesalter hinter ſich hatten, zur Erziehung und Dienſt an die Höfe derſelben Herren, welche oft ganze Schaaren ſolcher adlichen Jugend auf ihre Koſten erzogen, die Töchter verheiratheten und die Söhne auf mannichfaltige Weiſe verſorgten. Sie liebten es, bei öffentlichen Gelegenheiten in Mitte ihrer zahlreichen Hofleute, Diener und Clienten zu erſcheinen, welche zugleich für alle Fälle ihre ſchlagfertige Leibwache waren. Als im Jahre 1778 Fürſt Stanislaw Lubomirski, Woiwode von Kiew, zum Landtage (seymik) nach Zytomierz kam und zur Eröffnung deſſelben nach der Kathedrale fuhr, begleitete ihn eine Kavalkade von 85 Hofleuten, und hinter ihm folgten eben ſo viele Diener (pacholiki), alle zu Pferde in prächtigen Kleidern und mit glänzendem Reitzeug. S. Ochocki, Pamiętniki I, 149. 150.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/roepell_polen_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/roepell_polen_1876/22
Zitationshilfe: Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roepell_polen_1876/22>, abgerufen am 30.04.2024.