Ich bin alt und krank und hilflos. Du bist, Gott weiß wo, im Gebirge. In meiner Krankheit denke ich über Alles nach. Ich habe dir wol Un- recht gethan und bitte dich um Verzeihung. Dieses Geld drückt mich am meisten, es ist dein Pathen- geschenk; du hast es seiner Tage für deinen Vater in den Himmel schicken wollen. Ich habe es dir damals genommen. Nimm das Andenken zurück, Andreas, und verzeihe mir. Ich will ja ruhig sterben. Gott segne dich, und Eines muß ich dir noch sagen: wenn du zu hinterst im Gebirge bist, so gehe nicht mehr in die Welt zurück. Alles ist eitel. In guten Tagen sind mir meine Freunde getreu gewesen; jetzt lassen sie mich in der Armut sterben.
Ich küsse dich viel tausendmal, mein lieber, einziger Blutsverwandter. Wenn mich Gott in den Himmel nimmt, so will ich deine Eltern grüßen.
Deine bis in den Tod liebende Muhme Elise."
„Lieber Andreas!
Ich bin alt und krank und hilflos. Du biſt, Gott weiß wo, im Gebirge. In meiner Krankheit denke ich über Alles nach. Ich habe dir wol Un- recht gethan und bitte dich um Verzeihung. Dieſes Geld drückt mich am meiſten, es iſt dein Pathen- geſchenk; du haſt es ſeiner Tage für deinen Vater in den Himmel ſchicken wollen. Ich habe es dir damals genommen. Nimm das Andenken zurück, Andreas, und verzeihe mir. Ich will ja ruhig ſterben. Gott ſegne dich, und Eines muß ich dir noch ſagen: wenn du zu hinterſt im Gebirge biſt, ſo gehe nicht mehr in die Welt zurück. Alles iſt eitel. In guten Tagen ſind mir meine Freunde getreu geweſen; jetzt laſſen ſie mich in der Armut ſterben.
Ich küſſe dich viel tauſendmal, mein lieber, einziger Blutsverwandter. Wenn mich Gott in den Himmel nimmt, ſo will ich deine Eltern grüßen.
Deine bis in den Tod liebende Muhme Eliſe.“
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„Lieber Andreas!
Ich bin alt und krank und hilflos. Du biſt,
Gott weiß wo, im Gebirge. In meiner Krankheit
denke ich über Alles nach. Ich habe dir wol Un-
recht gethan und bitte dich um Verzeihung. Dieſes
Geld drückt mich am meiſten, es iſt dein Pathen-
geſchenk; du haſt es ſeiner Tage für deinen Vater
in den Himmel ſchicken wollen. Ich habe es dir
damals genommen. Nimm das Andenken zurück,
Andreas, und verzeihe mir. Ich will ja ruhig
ſterben. Gott ſegne dich, und Eines muß ich dir
noch ſagen: wenn du zu hinterſt im Gebirge biſt,
ſo gehe nicht mehr in die Welt zurück. Alles iſt
eitel. In guten Tagen ſind mir meine Freunde
getreu geweſen; jetzt laſſen ſie mich in der Armut
ſterben.
Ich küſſe dich viel tauſendmal, mein lieber,
einziger Blutsverwandter. Wenn mich Gott in den
Himmel nimmt, ſo will ich deine Eltern grüßen.
Deine bis in den Tod
liebende Muhme
Eliſe.“
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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/361>, abgerufen am 05.06.2024.
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