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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Scheingründe für den Selbstmord.

Setzen wir, der Vater hätte seinen
Sohn auf Reisen geschickt, damit er die
Menschen kennen, Wissenschaften und Kün-
ste lernen, und wohlgebildet an Leib und
Seele zurückkehren, und dann die La-
sten der Haushaltung, und Amtsgeschäfte
der müden Vaterschulter abnehmen sollte:
er, der Vater, wolle ihn zu rechter Zeit
schon selbst heimberufen.

Nun aber wäre dem Söhnchen die
Luft zu rauh, das Reisen zu unbequem,
und das Sichselbstbilden zu mühsam. Er
käme also ungerufen, dumm und ungezogen
nach Hause, und gienge auf den Vater zu,
um ihn zu umarmen, und spräche: Vater,
sieh, ich bin gern bey dir: verzeih, daß ich
meine Reisezeit nicht ausgehalten habe. --
Was würde in diesem Falle auch der liebend-
ste Vater sagen, thun?

"Ungehorsamer, würde er sagen, du
bist meiner Umarmung nicht werth: das
Herz deines Vaters hast du bluten gemacht
durch deinen Ungehorsam. Du kommst zu-
rück ohne Bildung, ohne Tugend, ohne

Weis-
Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.

Setzen wir, der Vater haͤtte ſeinen
Sohn auf Reiſen geſchickt, damit er die
Menſchen kennen, Wiſſenſchaften und Kuͤn-
ſte lernen, und wohlgebildet an Leib und
Seele zuruͤckkehren, und dann die La-
ſten der Haushaltung, und Amtsgeſchaͤfte
der muͤden Vaterſchulter abnehmen ſollte:
er, der Vater, wolle ihn zu rechter Zeit
ſchon ſelbſt heimberufen.

Nun aber waͤre dem Soͤhnchen die
Luft zu rauh, das Reiſen zu unbequem,
und das Sichſelbſtbilden zu muͤhſam. Er
kaͤme alſo ungerufen, dumm und ungezogen
nach Hauſe, und gienge auf den Vater zu,
um ihn zu umarmen, und ſpraͤche: Vater,
ſieh, ich bin gern bey dir: verzeih, daß ich
meine Reiſezeit nicht ausgehalten habe. —
Was wuͤrde in dieſem Falle auch der liebend-
ſte Vater ſagen, thun?

„Ungehorſamer, wuͤrde er ſagen, du
biſt meiner Umarmung nicht werth: das
Herz deines Vaters haſt du bluten gemacht
durch deinen Ungehorſam. Du kommſt zu-
ruͤck ohne Bildung, ohne Tugend, ohne

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[93/0105] Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord. Setzen wir, der Vater haͤtte ſeinen Sohn auf Reiſen geſchickt, damit er die Menſchen kennen, Wiſſenſchaften und Kuͤn- ſte lernen, und wohlgebildet an Leib und Seele zuruͤckkehren, und dann die La- ſten der Haushaltung, und Amtsgeſchaͤfte der muͤden Vaterſchulter abnehmen ſollte: er, der Vater, wolle ihn zu rechter Zeit ſchon ſelbſt heimberufen. Nun aber waͤre dem Soͤhnchen die Luft zu rauh, das Reiſen zu unbequem, und das Sichſelbſtbilden zu muͤhſam. Er kaͤme alſo ungerufen, dumm und ungezogen nach Hauſe, und gienge auf den Vater zu, um ihn zu umarmen, und ſpraͤche: Vater, ſieh, ich bin gern bey dir: verzeih, daß ich meine Reiſezeit nicht ausgehalten habe. — Was wuͤrde in dieſem Falle auch der liebend- ſte Vater ſagen, thun? „Ungehorſamer, wuͤrde er ſagen, du biſt meiner Umarmung nicht werth: das Herz deines Vaters haſt du bluten gemacht durch deinen Ungehorſam. Du kommſt zu- ruͤck ohne Bildung, ohne Tugend, ohne Weis-

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/105>, abgerufen am 26.04.2024.