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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

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Mitfreude, wenn das Gegentheil ist, von Mit-
leiden bewegt.

Weil man also die Empfindungen des Anderen
nicht unmittelbar empfangen kann, sondern sie sich
selbst geben muß; indem man sich vorstellt, was
man in dem Zustande, welchen der Ausdruck zu
bezeichnen scheint, selbst empfinden würde; so
kann das Gefühl des Sympathisirenden nicht im-
mer dem Gefühl dessen, mit dem er sympathisirt,
gleich seyn. Die Phantasie verkleinert entweder
die Empfindung des Andern, oder vergrößert sie;
ja ändert wohl gar die Beschaffenheit der Empfin-
dungen selbst, und bildet sich die Leiden als Freu-
den, die Freuden als Leiden vor.

Gewiß hatte Polyrena es nicht für eine
Glückseligkeit gehalten, an dem Grabe des Achil-
les
geschlachtet zu werden; aber Andromache,
die, einst Hectors Gemahlin, itzt eines Barba-
ren Sclavin ist, preist sie vor Andern deswegen
selig: O Priams Tochter, ruft sie aus, vor
Andern einzig beglückt, daß über dir, am Grabe
des Feindes unter Trojas hohen Mauern geopfert,
kein Loos geworfen ward; und du als Sclavin
nicht des siegenden Gebieters Bette berühren
darfst*). Andromache, die den Tod ihrem

sclavi-
*) O felix una ante alias Priameia virgo,
Hostilem ad tumulum Trojae sub moenibus altis

Jussa

Mitfreude, wenn das Gegentheil iſt, von Mit-
leiden bewegt.

Weil man alſo die Empfindungen des Anderen
nicht unmittelbar empfangen kann, ſondern ſie ſich
ſelbſt geben muß; indem man ſich vorſtellt, was
man in dem Zuſtande, welchen der Ausdruck zu
bezeichnen ſcheint, ſelbſt empfinden wuͤrde; ſo
kann das Gefuͤhl des Sympathiſirenden nicht im-
mer dem Gefuͤhl deſſen, mit dem er ſympathiſirt,
gleich ſeyn. Die Phantaſie verkleinert entweder
die Empfindung des Andern, oder vergroͤßert ſie;
ja aͤndert wohl gar die Beſchaffenheit der Empfin-
dungen ſelbſt, und bildet ſich die Leiden als Freu-
den, die Freuden als Leiden vor.

Gewiß hatte Polyrena es nicht fuͤr eine
Gluͤckſeligkeit gehalten, an dem Grabe des Achil-
les
geſchlachtet zu werden; aber Andromache,
die, einſt Hectors Gemahlin, itzt eines Barba-
ren Sclavin iſt, preiſt ſie vor Andern deswegen
ſelig: O Priams Tochter, ruft ſie aus, vor
Andern einzig begluͤckt, daß uͤber dir, am Grabe
des Feindes unter Trojas hohen Mauern geopfert,
kein Loos geworfen ward; und du als Sclavin
nicht des ſiegenden Gebieters Bette beruͤhren
darfſt*). Andromache, die den Tod ihrem

ſclavi-
*) O felix una ante alias Priameïa virgo,
Hoſtilem ad tumulum Trojae ſub moenibus altis

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[518/0234] Mitfreude, wenn das Gegentheil iſt, von Mit- leiden bewegt. Weil man alſo die Empfindungen des Anderen nicht unmittelbar empfangen kann, ſondern ſie ſich ſelbſt geben muß; indem man ſich vorſtellt, was man in dem Zuſtande, welchen der Ausdruck zu bezeichnen ſcheint, ſelbſt empfinden wuͤrde; ſo kann das Gefuͤhl des Sympathiſirenden nicht im- mer dem Gefuͤhl deſſen, mit dem er ſympathiſirt, gleich ſeyn. Die Phantaſie verkleinert entweder die Empfindung des Andern, oder vergroͤßert ſie; ja aͤndert wohl gar die Beſchaffenheit der Empfin- dungen ſelbſt, und bildet ſich die Leiden als Freu- den, die Freuden als Leiden vor. Gewiß hatte Polyrena es nicht fuͤr eine Gluͤckſeligkeit gehalten, an dem Grabe des Achil- les geſchlachtet zu werden; aber Andromache, die, einſt Hectors Gemahlin, itzt eines Barba- ren Sclavin iſt, preiſt ſie vor Andern deswegen ſelig: O Priams Tochter, ruft ſie aus, vor Andern einzig begluͤckt, daß uͤber dir, am Grabe des Feindes unter Trojas hohen Mauern geopfert, kein Loos geworfen ward; und du als Sclavin nicht des ſiegenden Gebieters Bette beruͤhren darfſt *). Andromache, die den Tod ihrem ſclavi- *) O felix una ante alias Priameïa virgo, Hoſtilem ad tumulum Trojae ſub moenibus altis Juſſa

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/234>, abgerufen am 30.04.2024.