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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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eines andern, wie z. E. Verwechselung der Bedeutung eines
Wortes mit der eines andern. Subjectiv ist das qualitative
Mißverständniß die Verwechselung der Beziehungen eines Aus-
drucks, so daß man demselben eine andere Beziehung giebt, als
der Redende ihm in seinem Kreise gegeben hat 1).

2. Das quantitative Mißverstehen bezieht sich subjectiv auf
die Entwicklungskraft eines Theils der Rede, den Werth (Nach-
druck), den ihm der Redende beilegt, -- analog objectiv, auf
die Stelle, die ein Redetheil in der Gradation einnimmt, z. B.
der Superlativ.

3. Aus dem quantitativen, welches gewöhnlich minder be-
achtet wird, entwickelt sich immer das qualitative.

4. Alle Aufgaben sind in diesem negativen Ausdrucke ent-
halten. Allein ihrer Negativität wegen können wir aus ihnen
die Regeln nicht entwickeln, sondern müssen von einem positi-
ven ausgehen aber uns beständig an diesem negativen orien-
tiren.

5. Es ist auch noch positiver und activer Mißverstand zu
unterscheiden. Letzterer ist das Einlegen, welches aber die Folge
eigenes Befangenseins ist, in Beziehung worauf also nichts be-
stimmtes geschehen kann sofern es nicht als Maximum erscheint,
wobei ganz falsche Voraussetzungen zum Grunde liegen.

Das 2) Mißverstehen ist entweder Folge der Übereilung oder der
Befangenheit. Jene ist ein einzelner Moment. Diese ist ein
Fehler, der tiefer steckt. Es ist die einseitige Vorliebe für das
was dem einzelnen Ideenkreise nahe liegt und das Abstoßen des-
sen was außer demselben liegt. So erklärt man hinein oder
heraus was nicht im Schriftsteller liegt.

18. Die Kunst kann ihre Regeln nur aus einer po-
sitiven Formel entwickeln und diese ist das geschichtliche

1) Hier ist aus der Vorlesung der deutlichere Ausdruck des Gedankens
gleich mit aufgenommen.
2) Aus der Vorles. v. 1826.

eines andern, wie z. E. Verwechſelung der Bedeutung eines
Wortes mit der eines andern. Subjectiv iſt das qualitative
Mißverſtaͤndniß die Verwechſelung der Beziehungen eines Aus-
drucks, ſo daß man demſelben eine andere Beziehung giebt, als
der Redende ihm in ſeinem Kreiſe gegeben hat 1).

2. Das quantitative Mißverſtehen bezieht ſich ſubjectiv auf
die Entwicklungskraft eines Theils der Rede, den Werth (Nach-
druck), den ihm der Redende beilegt, — analog objectiv, auf
die Stelle, die ein Redetheil in der Gradation einnimmt, z. B.
der Superlativ.

3. Aus dem quantitativen, welches gewoͤhnlich minder be-
achtet wird, entwickelt ſich immer das qualitative.

4. Alle Aufgaben ſind in dieſem negativen Ausdrucke ent-
halten. Allein ihrer Negativitaͤt wegen koͤnnen wir aus ihnen
die Regeln nicht entwickeln, ſondern muͤſſen von einem poſiti-
ven ausgehen aber uns beſtaͤndig an dieſem negativen orien-
tiren.

5. Es iſt auch noch poſitiver und activer Mißverſtand zu
unterſcheiden. Letzterer iſt das Einlegen, welches aber die Folge
eigenes Befangenſeins iſt, in Beziehung worauf alſo nichts be-
ſtimmtes geſchehen kann ſofern es nicht als Maximum erſcheint,
wobei ganz falſche Vorausſetzungen zum Grunde liegen.

Das 2) Mißverſtehen iſt entweder Folge der Übereilung oder der
Befangenheit. Jene iſt ein einzelner Moment. Dieſe iſt ein
Fehler, der tiefer ſteckt. Es iſt die einſeitige Vorliebe fuͤr das
was dem einzelnen Ideenkreiſe nahe liegt und das Abſtoßen deſ-
ſen was außer demſelben liegt. So erklaͤrt man hinein oder
heraus was nicht im Schriftſteller liegt.

18. Die Kunſt kann ihre Regeln nur aus einer po-
ſitiven Formel entwickeln und dieſe iſt das geſchichtliche

1) Hier iſt aus der Vorleſung der deutlichere Ausdruck des Gedankens
gleich mit aufgenommen.
2) Aus der Vorleſ. v. 1826.
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[31/0055] eines andern, wie z. E. Verwechſelung der Bedeutung eines Wortes mit der eines andern. Subjectiv iſt das qualitative Mißverſtaͤndniß die Verwechſelung der Beziehungen eines Aus- drucks, ſo daß man demſelben eine andere Beziehung giebt, als der Redende ihm in ſeinem Kreiſe gegeben hat 1). 2. Das quantitative Mißverſtehen bezieht ſich ſubjectiv auf die Entwicklungskraft eines Theils der Rede, den Werth (Nach- druck), den ihm der Redende beilegt, — analog objectiv, auf die Stelle, die ein Redetheil in der Gradation einnimmt, z. B. der Superlativ. 3. Aus dem quantitativen, welches gewoͤhnlich minder be- achtet wird, entwickelt ſich immer das qualitative. 4. Alle Aufgaben ſind in dieſem negativen Ausdrucke ent- halten. Allein ihrer Negativitaͤt wegen koͤnnen wir aus ihnen die Regeln nicht entwickeln, ſondern muͤſſen von einem poſiti- ven ausgehen aber uns beſtaͤndig an dieſem negativen orien- tiren. 5. Es iſt auch noch poſitiver und activer Mißverſtand zu unterſcheiden. Letzterer iſt das Einlegen, welches aber die Folge eigenes Befangenſeins iſt, in Beziehung worauf alſo nichts be- ſtimmtes geſchehen kann ſofern es nicht als Maximum erſcheint, wobei ganz falſche Vorausſetzungen zum Grunde liegen. Das 2) Mißverſtehen iſt entweder Folge der Übereilung oder der Befangenheit. Jene iſt ein einzelner Moment. Dieſe iſt ein Fehler, der tiefer ſteckt. Es iſt die einſeitige Vorliebe fuͤr das was dem einzelnen Ideenkreiſe nahe liegt und das Abſtoßen deſ- ſen was außer demſelben liegt. So erklaͤrt man hinein oder heraus was nicht im Schriftſteller liegt. 18. Die Kunſt kann ihre Regeln nur aus einer po- ſitiven Formel entwickeln und dieſe iſt das geſchichtliche 1) Hier iſt aus der Vorleſung der deutlichere Ausdruck des Gedankens gleich mit aufgenommen. 2) Aus der Vorleſ. v. 1826.

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/55>, abgerufen am 30.04.2024.