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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
der sexuellen Begierden und zu entsprechenden Verirrungen Anlaß gegeben haben. Wir
treffen bei vielen Stämmen und Völkern der eben geschilderten Art sexuelle Ungebunden-
heit bis zur Geburt des ersten Kindes, bestimmte Feste und Zeiten allgemeiner geschlecht-
licher Ausgelassenheit und Vermischung, in Zusammenhang mit der Sippeneinteilung
und Exogamie einen Geschlechtsverkehr mehrerer Verwandter der einen Sippe mit ent-
sprechenden Gliedern der anderen. Wo sexuelle Laxheit und Ausschweifung Platz griff,
konnte Ungewißheit über die Vaterschaft eher Platz greifen als bei isoliert lebenden
Paaren und ganz kleinen Horden. Derartige Erscheinungen gaben für Bachofen, Lubock,
Mac Lennan, Morgan und andere Anlaß, an den Anfang der menschlichen Entwickelung
eine angebliche allgemeine und regellose Geschlechtsgemeinschaft oder die Annahme all-
gemeiner Gruppenehen zu setzen. Es ist denkbar, daß Derartiges da und dort vorkam,
aber nicht allgemein: die menschliche Entwickelung drängte -- von gewissen Ausnahmen
abgesehen -- wohl stets zu einer individuellen, gewisse Zeiten hindurch dauernden
Paarung; die Eifersucht wie die einfachsten menschlichen Gefühle wiesen immer auf
diesen Weg; es war stets nur die Frage, wie lange eine solche Paarung dauerte, ob
die wirtschaftlichen und Wohnverhältnisse die Dauer und die Ausschließlichkeit begünstigten,
ob Sitte und Recht Institutionen schaffen und festhalten konnten, welche das den Ver-
hältnissen und dem sittlichen Fortschritte Angemessene durchsetzten.

Machen wir uns die Verhältnisse, um die es sich handelte, klar. Wir haben es
mit etwas größeren Stämmen, die meist durch den Hackbau in bessere Lage gekommen
sind, zu thun. Der bessere Anbau, die bessere Ernährung ist fast überall den Frauen
zu danken; sie haben die Mais- und anderen Felder angebaut; diese und die Hütten
sind meist als ihr privates Eigentum angesehen; erst nach und nach entsteht mit dem
gemeinsamen Roden durch die Männer, durch die Sippen ein Sippeneigentum, durch
Stammesoccupation ein Stammeseigentum oder Obereigentum. Eine befestigte patri-
archalische Familienverfassung mit ausgebildeter Herrschaft des Mannes über Frau und
Kinder (wie Westermarck und andere annehmen) gab es bei ihnen auch vor diesem
Fortschritte nicht, sondern nur die Ansätze zu einer Ehe mit Vatergewalt und noch
stärkere Ansätze zu einer Sippeneinteilung des Stammes. Die Sippe konnte an die Ab-
stammung vom Vater wie an die von der Mutter anknüpfen; beides kommt vor; aber
das letztere überwiegt in der älteren Zeit, war das für jene Verhältnisse Natürlichere,
Angemessenere. Die Benennung der Kinder nach der Mutter und die Zuweisung aller
männlichen und weiblichen Nachkommen einer Stammmutter zur selben Sippe erleichterten
zunächst die Durchführung der instinktiv gewünschten Schranken des Geschlechtsverkehrs
am leichtesten. Und das Verbot für Kinder und Kindeskinder derselben Mutter erschien
allen primitiven Völkern unendlich wichtiger als das für die Kinder eines Vaters. Und
da zugleich bei allen primitiven Völkern ein instinktives Verständnis und Gefühl für
die Blutseinheit zwischen Mutter und Kind, nicht aber für die zwischen Vater und Kind
vorhanden ist, da der Geschlechtsverkehr der Mutter mit ihrem Manne oder mehreren
Männern anderer Sippen, die in der Nähe wohnten, durch die beginnende Selb-
ständigkeit der Wirtschaft von Mutter und Kindern nicht beeinträchtigt wurde, so
konnte aus der Benennung der Kinder nach der Mutter leicht das entstehen, was wir
heute Mutterrecht nennen: ein Verhältnis, dessen weite, fast universale Verbreitung
zu einer gewissen Zeit der menschlichen Entwickelung heute fast nur die Unkenntnis
leugnen kann.

Das Wesentliche dieser Verfassung ist nicht, daß die Kinder ihren Vater nicht kannten
-- das ist doch wohl auch bei ihr nicht regelmäßig, sondern stets nur ausnahmsweise der
Fall gewesen --, auch nicht, daß eine oder mehrere Frauen in der Sippe herrschten;
eine solche Verfassung, das Matriarchat, die Mutterherrschaft in Sippe und Stamm, kam
und kommt nur vereinzelt vor. Das Wesentliche ist allein, daß die Ehegemeinschaft von
Mann und Frau in Stamm und Sippe, in Wirtschaft und Recht nicht die beherrschende
Rolle spielt wie später in der patriarchalischen Familie, daß eine Reihe von Mutter-
und Geschwistergruppen zu Sippen verbunden, daß diese Sippen die wesentlichen und
wichtigsten Träger des socialen Lebens sind. Ich will nachher von ihnen besonders reden.

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
der ſexuellen Begierden und zu entſprechenden Verirrungen Anlaß gegeben haben. Wir
treffen bei vielen Stämmen und Völkern der eben geſchilderten Art ſexuelle Ungebunden-
heit bis zur Geburt des erſten Kindes, beſtimmte Feſte und Zeiten allgemeiner geſchlecht-
licher Ausgelaſſenheit und Vermiſchung, in Zuſammenhang mit der Sippeneinteilung
und Exogamie einen Geſchlechtsverkehr mehrerer Verwandter der einen Sippe mit ent-
ſprechenden Gliedern der anderen. Wo ſexuelle Laxheit und Ausſchweifung Platz griff,
konnte Ungewißheit über die Vaterſchaft eher Platz greifen als bei iſoliert lebenden
Paaren und ganz kleinen Horden. Derartige Erſcheinungen gaben für Bachofen, Lubock,
Mac Lennan, Morgan und andere Anlaß, an den Anfang der menſchlichen Entwickelung
eine angebliche allgemeine und regelloſe Geſchlechtsgemeinſchaft oder die Annahme all-
gemeiner Gruppenehen zu ſetzen. Es iſt denkbar, daß Derartiges da und dort vorkam,
aber nicht allgemein: die menſchliche Entwickelung drängte — von gewiſſen Ausnahmen
abgeſehen — wohl ſtets zu einer individuellen, gewiſſe Zeiten hindurch dauernden
Paarung; die Eiferſucht wie die einfachſten menſchlichen Gefühle wieſen immer auf
dieſen Weg; es war ſtets nur die Frage, wie lange eine ſolche Paarung dauerte, ob
die wirtſchaftlichen und Wohnverhältniſſe die Dauer und die Ausſchließlichkeit begünſtigten,
ob Sitte und Recht Inſtitutionen ſchaffen und feſthalten konnten, welche das den Ver-
hältniſſen und dem ſittlichen Fortſchritte Angemeſſene durchſetzten.

Machen wir uns die Verhältniſſe, um die es ſich handelte, klar. Wir haben es
mit etwas größeren Stämmen, die meiſt durch den Hackbau in beſſere Lage gekommen
ſind, zu thun. Der beſſere Anbau, die beſſere Ernährung iſt faſt überall den Frauen
zu danken; ſie haben die Mais- und anderen Felder angebaut; dieſe und die Hütten
ſind meiſt als ihr privates Eigentum angeſehen; erſt nach und nach entſteht mit dem
gemeinſamen Roden durch die Männer, durch die Sippen ein Sippeneigentum, durch
Stammesoccupation ein Stammeseigentum oder Obereigentum. Eine befeſtigte patri-
archaliſche Familienverfaſſung mit ausgebildeter Herrſchaft des Mannes über Frau und
Kinder (wie Weſtermarck und andere annehmen) gab es bei ihnen auch vor dieſem
Fortſchritte nicht, ſondern nur die Anſätze zu einer Ehe mit Vatergewalt und noch
ſtärkere Anſätze zu einer Sippeneinteilung des Stammes. Die Sippe konnte an die Ab-
ſtammung vom Vater wie an die von der Mutter anknüpfen; beides kommt vor; aber
das letztere überwiegt in der älteren Zeit, war das für jene Verhältniſſe Natürlichere,
Angemeſſenere. Die Benennung der Kinder nach der Mutter und die Zuweiſung aller
männlichen und weiblichen Nachkommen einer Stammmutter zur ſelben Sippe erleichterten
zunächſt die Durchführung der inſtinktiv gewünſchten Schranken des Geſchlechtsverkehrs
am leichteſten. Und das Verbot für Kinder und Kindeskinder derſelben Mutter erſchien
allen primitiven Völkern unendlich wichtiger als das für die Kinder eines Vaters. Und
da zugleich bei allen primitiven Völkern ein inſtinktives Verſtändnis und Gefühl für
die Blutseinheit zwiſchen Mutter und Kind, nicht aber für die zwiſchen Vater und Kind
vorhanden iſt, da der Geſchlechtsverkehr der Mutter mit ihrem Manne oder mehreren
Männern anderer Sippen, die in der Nähe wohnten, durch die beginnende Selb-
ſtändigkeit der Wirtſchaft von Mutter und Kindern nicht beeinträchtigt wurde, ſo
konnte aus der Benennung der Kinder nach der Mutter leicht das entſtehen, was wir
heute Mutterrecht nennen: ein Verhältnis, deſſen weite, faſt univerſale Verbreitung
zu einer gewiſſen Zeit der menſchlichen Entwickelung heute faſt nur die Unkenntnis
leugnen kann.

Das Weſentliche dieſer Verfaſſung iſt nicht, daß die Kinder ihren Vater nicht kannten
— das iſt doch wohl auch bei ihr nicht regelmäßig, ſondern ſtets nur ausnahmsweiſe der
Fall geweſen —, auch nicht, daß eine oder mehrere Frauen in der Sippe herrſchten;
eine ſolche Verfaſſung, das Matriarchat, die Mutterherrſchaft in Sippe und Stamm, kam
und kommt nur vereinzelt vor. Das Weſentliche iſt allein, daß die Ehegemeinſchaft von
Mann und Frau in Stamm und Sippe, in Wirtſchaft und Recht nicht die beherrſchende
Rolle ſpielt wie ſpäter in der patriarchaliſchen Familie, daß eine Reihe von Mutter-
und Geſchwiſtergruppen zu Sippen verbunden, daß dieſe Sippen die weſentlichen und
wichtigſten Träger des ſocialen Lebens ſind. Ich will nachher von ihnen beſonders reden.

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[234/0250] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. der ſexuellen Begierden und zu entſprechenden Verirrungen Anlaß gegeben haben. Wir treffen bei vielen Stämmen und Völkern der eben geſchilderten Art ſexuelle Ungebunden- heit bis zur Geburt des erſten Kindes, beſtimmte Feſte und Zeiten allgemeiner geſchlecht- licher Ausgelaſſenheit und Vermiſchung, in Zuſammenhang mit der Sippeneinteilung und Exogamie einen Geſchlechtsverkehr mehrerer Verwandter der einen Sippe mit ent- ſprechenden Gliedern der anderen. Wo ſexuelle Laxheit und Ausſchweifung Platz griff, konnte Ungewißheit über die Vaterſchaft eher Platz greifen als bei iſoliert lebenden Paaren und ganz kleinen Horden. Derartige Erſcheinungen gaben für Bachofen, Lubock, Mac Lennan, Morgan und andere Anlaß, an den Anfang der menſchlichen Entwickelung eine angebliche allgemeine und regelloſe Geſchlechtsgemeinſchaft oder die Annahme all- gemeiner Gruppenehen zu ſetzen. Es iſt denkbar, daß Derartiges da und dort vorkam, aber nicht allgemein: die menſchliche Entwickelung drängte — von gewiſſen Ausnahmen abgeſehen — wohl ſtets zu einer individuellen, gewiſſe Zeiten hindurch dauernden Paarung; die Eiferſucht wie die einfachſten menſchlichen Gefühle wieſen immer auf dieſen Weg; es war ſtets nur die Frage, wie lange eine ſolche Paarung dauerte, ob die wirtſchaftlichen und Wohnverhältniſſe die Dauer und die Ausſchließlichkeit begünſtigten, ob Sitte und Recht Inſtitutionen ſchaffen und feſthalten konnten, welche das den Ver- hältniſſen und dem ſittlichen Fortſchritte Angemeſſene durchſetzten. Machen wir uns die Verhältniſſe, um die es ſich handelte, klar. Wir haben es mit etwas größeren Stämmen, die meiſt durch den Hackbau in beſſere Lage gekommen ſind, zu thun. Der beſſere Anbau, die beſſere Ernährung iſt faſt überall den Frauen zu danken; ſie haben die Mais- und anderen Felder angebaut; dieſe und die Hütten ſind meiſt als ihr privates Eigentum angeſehen; erſt nach und nach entſteht mit dem gemeinſamen Roden durch die Männer, durch die Sippen ein Sippeneigentum, durch Stammesoccupation ein Stammeseigentum oder Obereigentum. Eine befeſtigte patri- archaliſche Familienverfaſſung mit ausgebildeter Herrſchaft des Mannes über Frau und Kinder (wie Weſtermarck und andere annehmen) gab es bei ihnen auch vor dieſem Fortſchritte nicht, ſondern nur die Anſätze zu einer Ehe mit Vatergewalt und noch ſtärkere Anſätze zu einer Sippeneinteilung des Stammes. Die Sippe konnte an die Ab- ſtammung vom Vater wie an die von der Mutter anknüpfen; beides kommt vor; aber das letztere überwiegt in der älteren Zeit, war das für jene Verhältniſſe Natürlichere, Angemeſſenere. Die Benennung der Kinder nach der Mutter und die Zuweiſung aller männlichen und weiblichen Nachkommen einer Stammmutter zur ſelben Sippe erleichterten zunächſt die Durchführung der inſtinktiv gewünſchten Schranken des Geſchlechtsverkehrs am leichteſten. Und das Verbot für Kinder und Kindeskinder derſelben Mutter erſchien allen primitiven Völkern unendlich wichtiger als das für die Kinder eines Vaters. Und da zugleich bei allen primitiven Völkern ein inſtinktives Verſtändnis und Gefühl für die Blutseinheit zwiſchen Mutter und Kind, nicht aber für die zwiſchen Vater und Kind vorhanden iſt, da der Geſchlechtsverkehr der Mutter mit ihrem Manne oder mehreren Männern anderer Sippen, die in der Nähe wohnten, durch die beginnende Selb- ſtändigkeit der Wirtſchaft von Mutter und Kindern nicht beeinträchtigt wurde, ſo konnte aus der Benennung der Kinder nach der Mutter leicht das entſtehen, was wir heute Mutterrecht nennen: ein Verhältnis, deſſen weite, faſt univerſale Verbreitung zu einer gewiſſen Zeit der menſchlichen Entwickelung heute faſt nur die Unkenntnis leugnen kann. Das Weſentliche dieſer Verfaſſung iſt nicht, daß die Kinder ihren Vater nicht kannten — das iſt doch wohl auch bei ihr nicht regelmäßig, ſondern ſtets nur ausnahmsweiſe der Fall geweſen —, auch nicht, daß eine oder mehrere Frauen in der Sippe herrſchten; eine ſolche Verfaſſung, das Matriarchat, die Mutterherrſchaft in Sippe und Stamm, kam und kommt nur vereinzelt vor. Das Weſentliche iſt allein, daß die Ehegemeinſchaft von Mann und Frau in Stamm und Sippe, in Wirtſchaft und Recht nicht die beherrſchende Rolle ſpielt wie ſpäter in der patriarchaliſchen Familie, daß eine Reihe von Mutter- und Geſchwiſtergruppen zu Sippen verbunden, daß dieſe Sippen die weſentlichen und wichtigſten Träger des ſocialen Lebens ſind. Ich will nachher von ihnen beſonders reden.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/250>, abgerufen am 30.04.2024.