Schubin, Ossip: Vollmondzauber. In: Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek (Fünfzehnter Jahrgang. Band 17). 1. Bd. Stuttgart, 1899.soll an der Toten herumhantiert haben wie eine Leichenfrau. Sie hat sie frisiert und hat ihr den Myrtenkranz aufs Haar gesteckt. Ich hab's erst später erfahren, sonst hätt' ich's nicht zugegeben. Zum Schluß hat sie ihr noch selbst eine Grabschrift gedichtet und mit goldenen Buchstaben auf ihr Grabkreuz drucken lassen, und jetzt pilgert sie jeden Tag hinunter zu dem Kirchhof." In dem Augenblick öffnete sich die Thür. Noch eine Dame trat ein. "Ach, kommst du endlich?" rief die Gräfin Zell. "Wir haben Besuch bekommen." Mit einer Handbewegung nach den beiden Herren nannte sie vorstellend deren Namen, worauf sie erklärend hinzufügte: "Meine Nichte Marchesina Ginori!" Gespannt heftete Swoyschin, der sich indessen zugleich mit dem Obersten erhoben und verbeugt hatte, die Augen auf die Italienerin. Er fühlte sich enttäuscht. Die Marchesina Ginori war ein großes, etwas grobknochiges Mädchen mit rotem Haar und weißen Augenwimpern, die Züge regelmäßig, ohne Anmut, die Hautfarbe frisch, aber stark von Sommersprossen entstellt. Die Haltung energisch, der Blick eigentümlich gerade, forschend, fast bannend. Nein, sein Traum war durchaus keine Offenbarung gewesen - kein Geisterspuk war dabei im Spiel. Bärenburg hatte sich einen Scherz mit dem soll an der Toten herumhantiert haben wie eine Leichenfrau. Sie hat sie frisiert und hat ihr den Myrtenkranz aufs Haar gesteckt. Ich hab’s erst später erfahren, sonst hätt’ ich’s nicht zugegeben. Zum Schluß hat sie ihr noch selbst eine Grabschrift gedichtet und mit goldenen Buchstaben auf ihr Grabkreuz drucken lassen, und jetzt pilgert sie jeden Tag hinunter zu dem Kirchhof.“ In dem Augenblick öffnete sich die Thür. Noch eine Dame trat ein. „Ach, kommst du endlich?“ rief die Gräfin Zell. „Wir haben Besuch bekommen.“ Mit einer Handbewegung nach den beiden Herren nannte sie vorstellend deren Namen, worauf sie erklärend hinzufügte: „Meine Nichte Marchesina Ginori!“ Gespannt heftete Swoyschin, der sich indessen zugleich mit dem Obersten erhoben und verbeugt hatte, die Augen auf die Italienerin. Er fühlte sich enttäuscht. Die Marchesina Ginori war ein großes, etwas grobknochiges Mädchen mit rotem Haar und weißen Augenwimpern, die Züge regelmäßig, ohne Anmut, die Hautfarbe frisch, aber stark von Sommersprossen entstellt. Die Haltung energisch, der Blick eigentümlich gerade, forschend, fast bannend. Nein, sein Traum war durchaus keine Offenbarung gewesen – kein Geisterspuk war dabei im Spiel. Bärenburg hatte sich einen Scherz mit dem <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0115" n="114"/> soll an der Toten herumhantiert haben wie eine Leichenfrau. Sie hat sie frisiert und hat ihr den Myrtenkranz aufs Haar gesteckt. Ich hab’s erst später erfahren, sonst hätt’ ich’s nicht zugegeben. Zum Schluß hat sie ihr noch selbst eine Grabschrift gedichtet und mit goldenen Buchstaben auf ihr Grabkreuz drucken lassen, und jetzt pilgert sie jeden Tag hinunter zu dem Kirchhof.“</p> <p>In dem Augenblick öffnete sich die Thür. Noch eine Dame trat ein. „Ach, kommst du endlich?“ rief die Gräfin Zell. „Wir haben Besuch bekommen.“ Mit einer Handbewegung nach den beiden Herren nannte sie vorstellend deren Namen, worauf sie erklärend hinzufügte: „Meine Nichte Marchesina Ginori!“</p> <p>Gespannt heftete Swoyschin, der sich indessen zugleich mit dem Obersten erhoben und verbeugt hatte, die Augen auf die Italienerin. Er fühlte sich enttäuscht.</p> <p>Die Marchesina Ginori war ein großes, etwas grobknochiges Mädchen mit rotem Haar und weißen Augenwimpern, die Züge regelmäßig, ohne Anmut, die Hautfarbe frisch, aber stark von Sommersprossen entstellt. Die Haltung energisch, der Blick eigentümlich gerade, forschend, fast bannend.</p> <p>Nein, sein Traum war durchaus keine Offenbarung gewesen – kein Geisterspuk war dabei im Spiel. Bärenburg hatte sich einen Scherz mit dem </p> </div> </body> </text> </TEI> [114/0115]
soll an der Toten herumhantiert haben wie eine Leichenfrau. Sie hat sie frisiert und hat ihr den Myrtenkranz aufs Haar gesteckt. Ich hab’s erst später erfahren, sonst hätt’ ich’s nicht zugegeben. Zum Schluß hat sie ihr noch selbst eine Grabschrift gedichtet und mit goldenen Buchstaben auf ihr Grabkreuz drucken lassen, und jetzt pilgert sie jeden Tag hinunter zu dem Kirchhof.“
In dem Augenblick öffnete sich die Thür. Noch eine Dame trat ein. „Ach, kommst du endlich?“ rief die Gräfin Zell. „Wir haben Besuch bekommen.“ Mit einer Handbewegung nach den beiden Herren nannte sie vorstellend deren Namen, worauf sie erklärend hinzufügte: „Meine Nichte Marchesina Ginori!“
Gespannt heftete Swoyschin, der sich indessen zugleich mit dem Obersten erhoben und verbeugt hatte, die Augen auf die Italienerin. Er fühlte sich enttäuscht.
Die Marchesina Ginori war ein großes, etwas grobknochiges Mädchen mit rotem Haar und weißen Augenwimpern, die Züge regelmäßig, ohne Anmut, die Hautfarbe frisch, aber stark von Sommersprossen entstellt. Die Haltung energisch, der Blick eigentümlich gerade, forschend, fast bannend.
Nein, sein Traum war durchaus keine Offenbarung gewesen – kein Geisterspuk war dabei im Spiel. Bärenburg hatte sich einen Scherz mit dem
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_vollmondzauber01_1899 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_vollmondzauber01_1899/115 |
Zitationshilfe: | Schubin, Ossip: Vollmondzauber. In: Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek (Fünfzehnter Jahrgang. Band 17). 1. Bd. Stuttgart, 1899, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_vollmondzauber01_1899/115>, abgerufen am 10.06.2024. |