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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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werden sollte, zu grösseren Streifereien genötigt. Wir sahen dies später bei den
Bororo, die auch an einem fischreichen Fluss wohnten, bei denen aber umgekehrt
die Jagd auf Säugetiere im Vordergrunde stand; sie waren wochenlang von Hause
abwesend und kehrten mit grossen Mengen gebratenen Fleisches zurück: sie be-
trieben noch keinen Feldbau.

Geistig -- und das ist ein Punkt von hoher Bedeutung -- lebten die
Schinguindianer trotz eines intensiven Feldbaus noch im vollen, echten Jäger-
stadium. Wenigstens von den Bakairi kann ich diesen Satz in seinem ganzen
Umfang bestätigen. Ich habe geschildert, mit welcher Aufmerksamkeit sie selbst
im Dorf jeden Laut, der aus dem Walde drang, jeden Vorgang aus dem Tier-
leben, den ihnen der Zufall vor Augen führte, beobachteten. Draussen auf dem
Kamp- oder Waldpfad, im Kanu, im Nachtlager fühlte sich der Indianer stets
auf der Jagd. Er wusste sich nicht durch eine Kluft von der Tierwelt geschieden,
er sah nur, dass sich alle Geschöpfe im Wesentlichen benahmen wie er selbst,
dass sie ihr Familienleben hatten, sich durch Laute miteinander verständigten,
Wohnungen besassen, sich zum Teil befehdeten und von der Jagdbeute oder von
Früchten ernährten, kurz er fühlte sich als primus inter pares, nicht über ihnen; er
wusste nichts von all den guten Dingen, dass es ein Anderes ist, ob man in Situations-
bildern oder in Begriffen Schlussfolgerungen zieht, und ob man nach Assoziationen,
die sich fertig innerhalb der Art forterben, oder nach der Tradition, die von den
Eltern durch die Sprache übermittelt wird, zweckgemäss handelt. Seine Sagen
und Legenden, die uns als reine Märchen und Tierfabeln erscheinen, und die er
genau so ernst nimmt wie wir die heiligen Bücher und ihre Lehren, in denen er
sich auch Menschen und Tiere vermischen lässt, müssten ihm selbst nur scherz-
hafte Spielereien sein, wenn er seine Person aus anderm Stoff geformt wüsste als
die übrigen Geschöpfe. Wir können diese Menschen nur verstehen, wenn wir sie
als das Erzeugnis des Jägertums betrachten. Den Hauptstock ihrer Erfahrungen
sammelten sie an Tieren, und mit diesen Erfahrungen, weil man nur durch
das Alte ein Neues zu verstehen vermag, erklärten sie sich vorwiegend die
Natur, bildeten sie sich ihre Weltanschauung. Dementsprechend sind ihre künst-
lerischen Motive, wie wir sehen werden, mit einer verblüffenden Einseitigkeit dem
Tierreich entlehnt, ja ihre ganze überraschend reiche Kunst wurzelt in dem Jäger-
leben und ist nur erblüht, als ein ruhigeres Dasein den Knospen Schutz gewährte.
Ich kann nicht genug von Anfang an auf diese Verhältnisse hinweisen, weil wir
sonst die materielle Kultur der Eingeborenen nicht richtig würdigen und ihre
geistige überhaupt nicht begreifen würden.

Auf der andern Seite ist es Thatsache, dass die Erzeugnisse des Feldbaus
-- ausgenommen bei den Trumai -- seit undenklichen Zeiten im Besitz unserer
Indianer sind. Dafür liefert die Vergleichung der Sprachen unwiderlegliche Be-
weise. Sie lehrt uns zunächst, dass die Stämme des Schingu verschiedenen Sprach-
familien angehören. Sie lehrt uns weiter, dass für jeden einzelnen die Abzweigung
von dem entsprechenden Grundvolk in entlegenen Epochen stattgefunden hat;

werden sollte, zu grösseren Streifereien genötigt. Wir sahen dies später bei den
Bororó, die auch an einem fischreichen Fluss wohnten, bei denen aber umgekehrt
die Jagd auf Säugetiere im Vordergrunde stand; sie waren wochenlang von Hause
abwesend und kehrten mit grossen Mengen gebratenen Fleisches zurück: sie be-
trieben noch keinen Feldbau.

Geistig — und das ist ein Punkt von hoher Bedeutung — lebten die
Schingúindianer trotz eines intensiven Feldbaus noch im vollen, echten Jäger-
stadium. Wenigstens von den Bakaïrí kann ich diesen Satz in seinem ganzen
Umfang bestätigen. Ich habe geschildert, mit welcher Aufmerksamkeit sie selbst
im Dorf jeden Laut, der aus dem Walde drang, jeden Vorgang aus dem Tier-
leben, den ihnen der Zufall vor Augen führte, beobachteten. Draussen auf dem
Kamp- oder Waldpfad, im Kanu, im Nachtlager fühlte sich der Indianer stets
auf der Jagd. Er wusste sich nicht durch eine Kluft von der Tierwelt geschieden,
er sah nur, dass sich alle Geschöpfe im Wesentlichen benahmen wie er selbst,
dass sie ihr Familienleben hatten, sich durch Laute miteinander verständigten,
Wohnungen besassen, sich zum Teil befehdeten und von der Jagdbeute oder von
Früchten ernährten, kurz er fühlte sich als primus inter pares, nicht über ihnen; er
wusste nichts von all den guten Dingen, dass es ein Anderes ist, ob man in Situations-
bildern oder in Begriffen Schlussfolgerungen zieht, und ob man nach Assoziationen,
die sich fertig innerhalb der Art forterben, oder nach der Tradition, die von den
Eltern durch die Sprache übermittelt wird, zweckgemäss handelt. Seine Sagen
und Legenden, die uns als reine Märchen und Tierfabeln erscheinen, und die er
genau so ernst nimmt wie wir die heiligen Bücher und ihre Lehren, in denen er
sich auch Menschen und Tiere vermischen lässt, müssten ihm selbst nur scherz-
hafte Spielereien sein, wenn er seine Person aus anderm Stoff geformt wüsste als
die übrigen Geschöpfe. Wir können diese Menschen nur verstehen, wenn wir sie
als das Erzeugnis des Jägertums betrachten. Den Hauptstock ihrer Erfahrungen
sammelten sie an Tieren, und mit diesen Erfahrungen, weil man nur durch
das Alte ein Neues zu verstehen vermag, erklärten sie sich vorwiegend die
Natur, bildeten sie sich ihre Weltanschauung. Dementsprechend sind ihre künst-
lerischen Motive, wie wir sehen werden, mit einer verblüffenden Einseitigkeit dem
Tierreich entlehnt, ja ihre ganze überraschend reiche Kunst wurzelt in dem Jäger-
leben und ist nur erblüht, als ein ruhigeres Dasein den Knospen Schutz gewährte.
Ich kann nicht genug von Anfang an auf diese Verhältnisse hinweisen, weil wir
sonst die materielle Kultur der Eingeborenen nicht richtig würdigen und ihre
geistige überhaupt nicht begreifen würden.

Auf der andern Seite ist es Thatsache, dass die Erzeugnisse des Feldbaus
— ausgenommen bei den Trumaí — seit undenklichen Zeiten im Besitz unserer
Indianer sind. Dafür liefert die Vergleichung der Sprachen unwiderlegliche Be-
weise. Sie lehrt uns zunächst, dass die Stämme des Schingú verschiedenen Sprach-
familien angehören. Sie lehrt uns weiter, dass für jeden einzelnen die Abzweigung
von dem entsprechenden Grundvolk in entlegenen Epochen stattgefunden hat;

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[201/0245] werden sollte, zu grösseren Streifereien genötigt. Wir sahen dies später bei den Bororó, die auch an einem fischreichen Fluss wohnten, bei denen aber umgekehrt die Jagd auf Säugetiere im Vordergrunde stand; sie waren wochenlang von Hause abwesend und kehrten mit grossen Mengen gebratenen Fleisches zurück: sie be- trieben noch keinen Feldbau. Geistig — und das ist ein Punkt von hoher Bedeutung — lebten die Schingúindianer trotz eines intensiven Feldbaus noch im vollen, echten Jäger- stadium. Wenigstens von den Bakaïrí kann ich diesen Satz in seinem ganzen Umfang bestätigen. Ich habe geschildert, mit welcher Aufmerksamkeit sie selbst im Dorf jeden Laut, der aus dem Walde drang, jeden Vorgang aus dem Tier- leben, den ihnen der Zufall vor Augen führte, beobachteten. Draussen auf dem Kamp- oder Waldpfad, im Kanu, im Nachtlager fühlte sich der Indianer stets auf der Jagd. Er wusste sich nicht durch eine Kluft von der Tierwelt geschieden, er sah nur, dass sich alle Geschöpfe im Wesentlichen benahmen wie er selbst, dass sie ihr Familienleben hatten, sich durch Laute miteinander verständigten, Wohnungen besassen, sich zum Teil befehdeten und von der Jagdbeute oder von Früchten ernährten, kurz er fühlte sich als primus inter pares, nicht über ihnen; er wusste nichts von all den guten Dingen, dass es ein Anderes ist, ob man in Situations- bildern oder in Begriffen Schlussfolgerungen zieht, und ob man nach Assoziationen, die sich fertig innerhalb der Art forterben, oder nach der Tradition, die von den Eltern durch die Sprache übermittelt wird, zweckgemäss handelt. Seine Sagen und Legenden, die uns als reine Märchen und Tierfabeln erscheinen, und die er genau so ernst nimmt wie wir die heiligen Bücher und ihre Lehren, in denen er sich auch Menschen und Tiere vermischen lässt, müssten ihm selbst nur scherz- hafte Spielereien sein, wenn er seine Person aus anderm Stoff geformt wüsste als die übrigen Geschöpfe. Wir können diese Menschen nur verstehen, wenn wir sie als das Erzeugnis des Jägertums betrachten. Den Hauptstock ihrer Erfahrungen sammelten sie an Tieren, und mit diesen Erfahrungen, weil man nur durch das Alte ein Neues zu verstehen vermag, erklärten sie sich vorwiegend die Natur, bildeten sie sich ihre Weltanschauung. Dementsprechend sind ihre künst- lerischen Motive, wie wir sehen werden, mit einer verblüffenden Einseitigkeit dem Tierreich entlehnt, ja ihre ganze überraschend reiche Kunst wurzelt in dem Jäger- leben und ist nur erblüht, als ein ruhigeres Dasein den Knospen Schutz gewährte. Ich kann nicht genug von Anfang an auf diese Verhältnisse hinweisen, weil wir sonst die materielle Kultur der Eingeborenen nicht richtig würdigen und ihre geistige überhaupt nicht begreifen würden. Auf der andern Seite ist es Thatsache, dass die Erzeugnisse des Feldbaus — ausgenommen bei den Trumaí — seit undenklichen Zeiten im Besitz unserer Indianer sind. Dafür liefert die Vergleichung der Sprachen unwiderlegliche Be- weise. Sie lehrt uns zunächst, dass die Stämme des Schingú verschiedenen Sprach- familien angehören. Sie lehrt uns weiter, dass für jeden einzelnen die Abzweigung von dem entsprechenden Grundvolk in entlegenen Epochen stattgefunden hat;

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/245>, abgerufen am 30.04.2024.