Myrrhe, und liest dann auch statt oxos entweder gerade- zu oinon, oder versteht doch jenes von saurem Wein 14), um so das betäubende Getränk aus Wein und starken Spe- cereien herauszubringen, welches nach jüdischer Sitte den Hinzurichtenden zur Abstumpfung des Schmerzgefühls ge- reicht zu werden pflegte 15). Allein wenn auch der Text diese Lesart, und die Worte diese Erklärungen zuliessen, so würde doch wohl Matthäus gegen die Hinausdeutung der wirklichen Galle und des Essigs aus seiner Erzählung sehr protestiren, weil ihm dadurch die Erfüllung der Wor- te des auch sonst messianisch gebrauchten Unglückspsalms 69, V. 22. (LXX): kai edokan eis to broma mou kholen, kai eis ten dipsan mou epotisan me oxos, verloren gienge. Diesem Orakel gemäss meint Matthäus unstreitig wirkliche Galle mit Essig, und aus der Vergleichung des Markus darf nur die Frage genommen werden, ob es wahrscheinlicher sei, dass der Vorgang, wie ihn Markus darstellt, das Ursprüng- liche gewesen, was erst Matthäus zu genauerer Ähnlichkeit mit der Weissagung umgeformt, oder ob Matthäus ursprüng- lich den Zug aus der Psalmstelle geschöpft, Markus aber ihn hinterher zu grösserer geschichtlicher Wahrscheinlich- keit umgebildet habe?
Um hierüber entscheiden zu können, müssen wir auch die beiden andern Evangelisten mit in die Betrachtung ziehen. Von einer Tränkung Jesu mit Essig nämlich mel- den alle viere, und auch jene beiden, welche den mit Gal- le vermischten Essig, oder den Myrrhenwein, als den er- sten Trank, der Jesu geboten wurde, haben, wissen spä- ter noch von einer Tränkung mit blossem Essig zu sagen.
14) s. Kuinöl, Paulus, z. d. St.
15) Sanhedrin, f. 43, 1, bei Wetstein, p. 635: Dixit R. Chaja, f. R. Ascher, dixisse R. Chasdam: exeunti, ut capite plecta- tur, dant bibendum granum turis in poculo vini, ut aliene- tur mens cjus, sec. d. Prov. 31, 6: date siceram pereunti et vinum amaris anima.
Drittes Kapitel. §. 128.
Myrrhe, und liest dann auch statt ὄξος entweder gerade- zu οἶνον, oder versteht doch jenes von saurem Wein 14), um so das betäubende Getränk aus Wein und starken Spe- cereien herauszubringen, welches nach jüdischer Sitte den Hinzurichtenden zur Abstumpfung des Schmerzgefühls ge- reicht zu werden pflegte 15). Allein wenn auch der Text diese Lesart, und die Worte diese Erklärungen zulieſsen, so würde doch wohl Matthäus gegen die Hinausdeutung der wirklichen Galle und des Essigs aus seiner Erzählung sehr protestiren, weil ihm dadurch die Erfüllung der Wor- te des auch sonst messianisch gebrauchten Unglückspsalms 69, V. 22. (LXX): καὶ ἔδωκαν εἰς τὸ βρῶμά μου χολὴν, καὶ εἰς τὴν δίψαν μου ἐπότισάν με ὄξος, verloren gienge. Diesem Orakel gemäſs meint Matthäus unstreitig wirkliche Galle mit Essig, und aus der Vergleichung des Markus darf nur die Frage genommen werden, ob es wahrscheinlicher sei, daſs der Vorgang, wie ihn Markus darstellt, das Ursprüng- liche gewesen, was erst Matthäus zu genauerer Ähnlichkeit mit der Weissagung umgeformt, oder ob Matthäus ursprüng- lich den Zug aus der Psalmstelle geschöpft, Markus aber ihn hinterher zu gröſserer geschichtlicher Wahrscheinlich- keit umgebildet habe?
Um hierüber entscheiden zu können, müssen wir auch die beiden andern Evangelisten mit in die Betrachtung ziehen. Von einer Tränkung Jesu mit Essig nämlich mel- den alle viere, und auch jene beiden, welche den mit Gal- le vermischten Essig, oder den Myrrhenwein, als den er- sten Trank, der Jesu geboten wurde, haben, wissen spä- ter noch von einer Tränkung mit bloſsem Essig zu sagen.
14) s. Kuinöl, Paulus, z. d. St.
15) Sanhedrin, f. 43, 1, bei Wetstein, p. 635: Dixit R. Chaja, f. R. Ascher, dixisse R. Chasdam: exeunti, ut capite plecta- tur, dant bibendum granum turis in poculo vini, ut aliene- tur mens cjus, sec. d. Prov. 31, 6: date siceram pereunti et vinum amaris anima.
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Drittes Kapitel. §. 128.
Myrrhe, und liest dann auch statt ὄξος entweder gerade-
zu οἶνον, oder versteht doch jenes von saurem Wein 14),
um so das betäubende Getränk aus Wein und starken Spe-
cereien herauszubringen, welches nach jüdischer Sitte den
Hinzurichtenden zur Abstumpfung des Schmerzgefühls ge-
reicht zu werden pflegte 15). Allein wenn auch der Text
diese Lesart, und die Worte diese Erklärungen zulieſsen,
so würde doch wohl Matthäus gegen die Hinausdeutung
der wirklichen Galle und des Essigs aus seiner Erzählung
sehr protestiren, weil ihm dadurch die Erfüllung der Wor-
te des auch sonst messianisch gebrauchten Unglückspsalms
69, V. 22. (LXX): καὶ ἔδωκαν εἰς τὸ βρῶμά μου χολὴν, καὶ
εἰς τὴν δίψαν μου ἐπότισάν με ὄξος, verloren gienge. Diesem
Orakel gemäſs meint Matthäus unstreitig wirkliche Galle
mit Essig, und aus der Vergleichung des Markus darf nur
die Frage genommen werden, ob es wahrscheinlicher sei,
daſs der Vorgang, wie ihn Markus darstellt, das Ursprüng-
liche gewesen, was erst Matthäus zu genauerer Ähnlichkeit
mit der Weissagung umgeformt, oder ob Matthäus ursprüng-
lich den Zug aus der Psalmstelle geschöpft, Markus aber
ihn hinterher zu gröſserer geschichtlicher Wahrscheinlich-
keit umgebildet habe?
Um hierüber entscheiden zu können, müssen wir auch
die beiden andern Evangelisten mit in die Betrachtung
ziehen. Von einer Tränkung Jesu mit Essig nämlich mel-
den alle viere, und auch jene beiden, welche den mit Gal-
le vermischten Essig, oder den Myrrhenwein, als den er-
sten Trank, der Jesu geboten wurde, haben, wissen spä-
ter noch von einer Tränkung mit bloſsem Essig zu sagen.
14) s. Kuinöl, Paulus, z. d. St.
15) Sanhedrin, f. 43, 1, bei Wetstein, p. 635: Dixit R. Chaja,
f. R. Ascher, dixisse R. Chasdam: exeunti, ut capite plecta-
tur, dant bibendum granum turis in poculo vini, ut aliene-
tur mens cjus, sec. d. Prov. 31, 6: date siceram pereunti
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 533. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/552>, abgerufen am 17.06.2024.
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