Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Hel mene Einheit der Handlung. Man erkennet sie ambesten daraus, wenn der Jnhalt des ganzen Ge- dichts sich in wenig Worte zusammen fassen läßt, so daß das Ganze nur eine Erweiterung einer ganz kurzen Erzählung ist. Was ist einfacher, als die Handlung der Jlias oder der Odyssee? Jede hat nur eine einzige würkende Ursache, woraus alles entsteht: der ganze Jnhalt der Jlias kann mit aller seiner Größe in wenig Worten vorgetragen wer- (*) S. Handlung.den, (*) und eben dieses hat bey der Odyssee und bey der Aeneis statt. Nothwendig ist also die Einheit der Handlung; Darum ist es sehr vortheilhaft, wenn er wenig Hel Kraft Menschen zu schildern, je mehr er zu solchenSchilderungen anwenden mußte, die blos die Phan- tasie beschäftigen. Der epische Dichter muß sich sehr dafür in Acht nehmen, daß er die Einbildungs- kraft seines Lesers nicht ermüde. Der überschweng- liche Reichthum großer Scenen von dieser Art thut der hohen Messiade nicht geringen Schaden; Leser die nicht selbst die lebhafteste Einbildungs- kraft haben, müssen sich in den Vorstellungen der Phantasie so verwikelt und verwirrt finden, daß sie sich nicht herauszuhelfen wissen. Jn der Odyssee war diese Mannigfaltigkeit an sinnlichen Scenen nothwendig. Der Dichter hatte eigentlich nur einen Menschen zu schildern, dessen Charakter er bis auf den geringsten Zug entfalten wollte; dar- um mußte er ihn durch so mancherley Abentheuer hindurchführen. Die Handlung muß wichtig und groß seyn. Zeit Erster Theil. X x x
[Spaltenumbruch] Hel mene Einheit der Handlung. Man erkennet ſie ambeſten daraus, wenn der Jnhalt des ganzen Ge- dichts ſich in wenig Worte zuſammen faſſen laͤßt, ſo daß das Ganze nur eine Erweiterung einer ganz kurzen Erzaͤhlung iſt. Was iſt einfacher, als die Handlung der Jlias oder der Odyſſee? Jede hat nur eine einzige wuͤrkende Urſache, woraus alles entſteht: der ganze Jnhalt der Jlias kann mit aller ſeiner Groͤße in wenig Worten vorgetragen wer- (*) S. Handlung.den, (*) und eben dieſes hat bey der Odyſſee und bey der Aeneis ſtatt. Nothwendig iſt alſo die Einheit der Handlung; Darum iſt es ſehr vortheilhaft, wenn er wenig Hel Kraft Menſchen zu ſchildern, je mehr er zu ſolchenSchilderungen anwenden mußte, die blos die Phan- taſie beſchaͤftigen. Der epiſche Dichter muß ſich ſehr dafuͤr in Acht nehmen, daß er die Einbildungs- kraft ſeines Leſers nicht ermuͤde. Der uͤberſchweng- liche Reichthum großer Scenen von dieſer Art thut der hohen Meſſiade nicht geringen Schaden; Leſer die nicht ſelbſt die lebhafteſte Einbildungs- kraft haben, muͤſſen ſich in den Vorſtellungen der Phantaſie ſo verwikelt und verwirrt finden, daß ſie ſich nicht herauszuhelfen wiſſen. Jn der Odyſſee war dieſe Mannigfaltigkeit an ſinnlichen Scenen nothwendig. Der Dichter hatte eigentlich nur einen Menſchen zu ſchildern, deſſen Charakter er bis auf den geringſten Zug entfalten wollte; dar- um mußte er ihn durch ſo mancherley Abentheuer hindurchfuͤhren. Die Handlung muß wichtig und groß ſeyn. Zeit Erſter Theil. X x x
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Er wuͤrde ſehr gegen<lb/> die Kunſt anſtoßen, wenn ſeine Landſchaft ſo reich<lb/> an mannigfaltigen Gegenſtaͤnden waͤre, daß die Ein-<lb/> bildungskraft vorzuͤglich durch dieſelben gereizt und<lb/> von den Perſonen abgezogen wuͤrde. Eben dieſen<lb/> Fehler wuͤrde der epiſche Dichter begehen, wenn er<lb/> gar zu viel außer dem menſchlichen Gemuͤth liegende<lb/> Materie in ſein Gedicht bringen wollte.</p><lb/> <p>Darum iſt es ſehr vortheilhaft, wenn er wenig<lb/> koͤrperliche Materie hat; wenn ſeine Handlung ein-<lb/> fach iſt, und ſich ſo leicht entwikelt, daß die Einbil-<lb/> dungskraft ohne Anſtrengung dem Faden der Bege-<lb/> benheiten folgen kann. Dadurch gewinnt er ſelbſt<lb/> mehr Raum zu den Schilderungen, die das Weſent-<lb/> liche des Gedichts ausmachen, und der Leſer wird<lb/> weniger durch die Phantaſie zerſtreut. Jn dieſem<lb/> Stuͤk hat die Jlias einen großen Vorzug uͤber die<lb/> Aeneis. Dieſe beſchaͤftiget die Einbildungskraft<lb/> weit mehr, als den Verſtand und das Herz; und<lb/> der Dichter ſelbſt hatte ſo viel weniger Zeit und<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Hel</hi></fw><lb/> Kraft Menſchen zu ſchildern, je mehr er zu ſolchen<lb/> Schilderungen anwenden mußte, die blos die Phan-<lb/> taſie beſchaͤftigen. Der epiſche Dichter muß ſich<lb/> ſehr dafuͤr in Acht nehmen, daß er die Einbildungs-<lb/> kraft ſeines Leſers nicht ermuͤde. Der uͤberſchweng-<lb/> liche Reichthum großer Scenen von dieſer Art<lb/> thut der hohen Meſſiade nicht geringen Schaden;<lb/> Leſer die nicht ſelbſt die lebhafteſte Einbildungs-<lb/> kraft haben, muͤſſen ſich in den Vorſtellungen der<lb/> Phantaſie ſo verwikelt und verwirrt finden, daß ſie<lb/> ſich nicht herauszuhelfen wiſſen. Jn der Odyſſee<lb/> war dieſe Mannigfaltigkeit an ſinnlichen Scenen<lb/> nothwendig. 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Hel
Hel
mene Einheit der Handlung. Man erkennet ſie am
beſten daraus, wenn der Jnhalt des ganzen Ge-
dichts ſich in wenig Worte zuſammen faſſen laͤßt,
ſo daß das Ganze nur eine Erweiterung einer ganz
kurzen Erzaͤhlung iſt. Was iſt einfacher, als die
Handlung der Jlias oder der Odyſſee? Jede hat
nur eine einzige wuͤrkende Urſache, woraus alles
entſteht: der ganze Jnhalt der Jlias kann mit aller
ſeiner Groͤße in wenig Worten vorgetragen wer-
den, (*) und eben dieſes hat bey der Odyſſee und
bey der Aeneis ſtatt.
(*) S.
Handlung.
Nothwendig iſt alſo die Einheit der Handlung;
und ſehr vortheilhaft iſt es, wenn ſie ſehr einfach
iſt. Das Romanhafte, oder die Menge und Man-
nigfaltigkeit ſeltſamer Begebenheiten, die blos die
Einbildungskraft anfuͤllen, iſt dem wahren Geiſt der
Epopoͤe zuwider. Die Hauptabſicht des Dichters
geht auf die Schilderung großer Thaten, die er in
dem innern der Seele aufkeimen, und durch auſſer-
ordentliche Seelenkraͤfte ſich entwikeln ſieht. Die-
ſes iſt eigentlich ſeine Materie; die Begebenheiten ſind
der Grund oder die Tafel, auf welche er ſeine Schil-
derungen auftraͤgt. (*) Man kann das epiſche Ge-
dicht mit einem hiſtoriſchen Gemaͤhlde vergleichen,
in welchem ohne Zweifel die Zeichnung der Perſo-
nen, deſſen was ſie fuͤhlen, und deſſen, wonach ſie
ſtreben, die Hauptſach iſt. Aber der Mahler hat
eine Scene noͤthig, eine Landſchaft, einen Platz, wo-
hin er ſeine Perſonen ſtellt. Er wuͤrde ſehr gegen
die Kunſt anſtoßen, wenn ſeine Landſchaft ſo reich
an mannigfaltigen Gegenſtaͤnden waͤre, daß die Ein-
bildungskraft vorzuͤglich durch dieſelben gereizt und
von den Perſonen abgezogen wuͤrde. Eben dieſen
Fehler wuͤrde der epiſche Dichter begehen, wenn er
gar zu viel außer dem menſchlichen Gemuͤth liegende
Materie in ſein Gedicht bringen wollte.
(*) S.
Fabel.
Darum iſt es ſehr vortheilhaft, wenn er wenig
koͤrperliche Materie hat; wenn ſeine Handlung ein-
fach iſt, und ſich ſo leicht entwikelt, daß die Einbil-
dungskraft ohne Anſtrengung dem Faden der Bege-
benheiten folgen kann. Dadurch gewinnt er ſelbſt
mehr Raum zu den Schilderungen, die das Weſent-
liche des Gedichts ausmachen, und der Leſer wird
weniger durch die Phantaſie zerſtreut. Jn dieſem
Stuͤk hat die Jlias einen großen Vorzug uͤber die
Aeneis. Dieſe beſchaͤftiget die Einbildungskraft
weit mehr, als den Verſtand und das Herz; und
der Dichter ſelbſt hatte ſo viel weniger Zeit und
Kraft Menſchen zu ſchildern, je mehr er zu ſolchen
Schilderungen anwenden mußte, die blos die Phan-
taſie beſchaͤftigen. Der epiſche Dichter muß ſich
ſehr dafuͤr in Acht nehmen, daß er die Einbildungs-
kraft ſeines Leſers nicht ermuͤde. Der uͤberſchweng-
liche Reichthum großer Scenen von dieſer Art
thut der hohen Meſſiade nicht geringen Schaden;
Leſer die nicht ſelbſt die lebhafteſte Einbildungs-
kraft haben, muͤſſen ſich in den Vorſtellungen der
Phantaſie ſo verwikelt und verwirrt finden, daß ſie
ſich nicht herauszuhelfen wiſſen. Jn der Odyſſee
war dieſe Mannigfaltigkeit an ſinnlichen Scenen
nothwendig. Der Dichter hatte eigentlich nur
einen Menſchen zu ſchildern, deſſen Charakter er
bis auf den geringſten Zug entfalten wollte; dar-
um mußte er ihn durch ſo mancherley Abentheuer
hindurchfuͤhren.
Die Handlung muß wichtig und groß ſeyn.
Wichtig; um die Aufmerkſamkeit zu reizen, ohne wel-
che der Dichter ſeine Bemuͤhung umſonſt verwendet,
oder gar durch ſeinen pathetiſchen Ton laͤcherlich wird.
Je hoͤher ſeine Materie iſt, je feyerlicher kann ſein
Ton ſeyn. Unternehmungen und Begebenheiten,
wovon das Gluͤk und Ungluͤk eines ganzen Volks
abhaͤngt, ſind die eigentlichſten Gegenſtaͤnde der Epo-
poͤe. Aber ſie muͤſſen auch eine aͤuſſerliche Groͤße
haben. Was ploͤtzlich entſteht und ſeine Wuͤrkung
ploͤtzlich vollendet, kann zwar hoͤchſt wichtig ſeyn,
aber es ſchiket ſich nicht zur epiſchen Erzaͤhlung.
Ein ganzes Land koͤnnte durch ein gewaltiges Erd-
beben ploͤtzlich verſinken. Dieſes waͤr eine hoͤchſt
wichtige Begebenheit, und koͤnnte den Stoff zu einer
erhabenen Ode geben; aber zum epiſchen Gedicht
ſchikt ſie ſich nicht, weil es ihr an Groͤße der Aus-
daͤhnung fehlet. Darum fodert man mit Recht zum
epiſchen Gedicht eine Handlung, wo mannigfaltige
Anſtrengung der Kraͤfte erfodert wird, wo gewal-
tige Schwierigkeiten vorkommen, wo die handeln-
den Perſonen in der hoͤchſten Wuͤrkſamkeit ſind;
denn nur eine ſolche Handlung giebt dem Dichter
Gelegenheit alle Kraͤfte des menſchlichen Gemuͤthes
zu entfalten. (*) Darum hatten Milton und
Klopſtok, obgleich jeder einen, an ſich hoͤchſt wich-
tigen, Stoff gewaͤhlt hatte, noͤthig, ihm durch die
kuͤhneſten Erdichtungen die Groͤße der Ausdaͤhnung
zu geben, ohne welche ihre Gegenſtaͤnde blos ein ly-
riſcher Stoff geblieben waͤren. Die Groͤße der
Handlung beſteht demnach nicht in der Laͤnge der
Zeit
(*) S.
Handlung.
Erſter Theil. X x x
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