er konnte sich im Taumel nicht mehr bewältigen, sondern drängte sich mit einem Kusse an den Mund, und wähnte, die schönen Arme zu fassen, um die nackte Gestalt ganz aus dem goldenen Gefängniß zu heben. Alsbald durchfuhr ein starkes Zittern das liebliche Bild, wie in tausend Linien brach das Haupt und der Leib zusammen, und eine Rose lag am Fuß des Pokales, aus deren Röthe noch das süße Lächeln schien. Sehnsüchtig ergriff sie Ferdinand, drückte sie an seinen Mund, und an seinem brennenden Verlangen verwelkte sie, und war in Luft zerflossen.
Du hast schlecht dein Wort gehalten, sagte der Alte verdrüßlich, du kannst dir nur selber die Schuld beimessen. Er verhüllte seinen Pokal wie- der, zog die Vorhänge auf und eröffnete ein Fen- ster, das helle Tageslicht brach herein, und Fer- dinand verließ wehmüthig und mit vielen Entschul- digungen den murrenden Alten.
Er eilte bewegt durch die Straßen der Stadt. Vor dem Thore setzte er sich unter den Bäumen nieder. Sie hatte ihm am Morgen gesagt, daß sie mit einigen Verwandten Abends über Land fah- ren müsse. Bald saß, bald wanderte er liebetrun- ken im Walde; immer sah er das holdselige Bild, wie es mehr und mehr aus dem glühenden Golde quoll, jetzt erwartete er, sie heraus schreiten zu sehn im Glanze ihrer Schönheit, und dann zer- brach die schönste Form vor seinen Augen, und er zürnte mit sich, daß er durch seine rastlose Liebe
Erſte Abtheilung.
er konnte ſich im Taumel nicht mehr bewaͤltigen, ſondern draͤngte ſich mit einem Kuſſe an den Mund, und waͤhnte, die ſchoͤnen Arme zu faſſen, um die nackte Geſtalt ganz aus dem goldenen Gefaͤngniß zu heben. Alsbald durchfuhr ein ſtarkes Zittern das liebliche Bild, wie in tauſend Linien brach das Haupt und der Leib zuſammen, und eine Roſe lag am Fuß des Pokales, aus deren Roͤthe noch das ſuͤße Laͤcheln ſchien. Sehnſuͤchtig ergriff ſie Ferdinand, druͤckte ſie an ſeinen Mund, und an ſeinem brennenden Verlangen verwelkte ſie, und war in Luft zerfloſſen.
Du haſt ſchlecht dein Wort gehalten, ſagte der Alte verdruͤßlich, du kannſt dir nur ſelber die Schuld beimeſſen. Er verhuͤllte ſeinen Pokal wie- der, zog die Vorhaͤnge auf und eroͤffnete ein Fen- ſter, das helle Tageslicht brach herein, und Fer- dinand verließ wehmuͤthig und mit vielen Entſchul- digungen den murrenden Alten.
Er eilte bewegt durch die Straßen der Stadt. Vor dem Thore ſetzte er ſich unter den Baͤumen nieder. Sie hatte ihm am Morgen geſagt, daß ſie mit einigen Verwandten Abends uͤber Land fah- ren muͤſſe. Bald ſaß, bald wanderte er liebetrun- ken im Walde; immer ſah er das holdſelige Bild, wie es mehr und mehr aus dem gluͤhenden Golde quoll, jetzt erwartete er, ſie heraus ſchreiten zu ſehn im Glanze ihrer Schoͤnheit, und dann zer- brach die ſchoͤnſte Form vor ſeinen Augen, und er zuͤrnte mit ſich, daß er durch ſeine raſtloſe Liebe
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0451"n="440"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Erſte Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
er konnte ſich im Taumel nicht mehr bewaͤltigen,<lb/>ſondern draͤngte ſich mit einem Kuſſe an den Mund,<lb/>
und waͤhnte, die ſchoͤnen Arme zu faſſen, um die<lb/>
nackte Geſtalt ganz aus dem goldenen Gefaͤngniß<lb/>
zu heben. Alsbald durchfuhr ein ſtarkes Zittern<lb/>
das liebliche Bild, wie in tauſend Linien brach das<lb/>
Haupt und der Leib zuſammen, und eine Roſe<lb/>
lag am Fuß des Pokales, aus deren Roͤthe noch<lb/>
das ſuͤße Laͤcheln ſchien. Sehnſuͤchtig ergriff ſie<lb/>
Ferdinand, druͤckte ſie an ſeinen Mund, und an<lb/>ſeinem brennenden Verlangen verwelkte ſie, und<lb/>
war in Luft zerfloſſen.</p><lb/><p>Du haſt ſchlecht dein Wort gehalten, ſagte<lb/>
der Alte verdruͤßlich, du kannſt dir nur ſelber die<lb/>
Schuld beimeſſen. Er verhuͤllte ſeinen Pokal wie-<lb/>
der, zog die Vorhaͤnge auf und eroͤffnete ein Fen-<lb/>ſter, das helle Tageslicht brach herein, und Fer-<lb/>
dinand verließ wehmuͤthig und mit vielen Entſchul-<lb/>
digungen den murrenden Alten.</p><lb/><p>Er eilte bewegt durch die Straßen der Stadt.<lb/>
Vor dem Thore ſetzte er ſich unter den Baͤumen<lb/>
nieder. Sie hatte ihm am Morgen geſagt, daß<lb/>ſie mit einigen Verwandten Abends uͤber Land fah-<lb/>
ren muͤſſe. Bald ſaß, bald wanderte er liebetrun-<lb/>
ken im Walde; immer ſah er das holdſelige Bild,<lb/>
wie es mehr und mehr aus dem gluͤhenden Golde<lb/>
quoll, jetzt erwartete er, ſie heraus ſchreiten zu<lb/>ſehn im Glanze ihrer Schoͤnheit, und dann zer-<lb/>
brach die ſchoͤnſte Form vor ſeinen Augen, und er<lb/>
zuͤrnte mit ſich, daß er durch ſeine raſtloſe Liebe<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[440/0451]
Erſte Abtheilung.
er konnte ſich im Taumel nicht mehr bewaͤltigen,
ſondern draͤngte ſich mit einem Kuſſe an den Mund,
und waͤhnte, die ſchoͤnen Arme zu faſſen, um die
nackte Geſtalt ganz aus dem goldenen Gefaͤngniß
zu heben. Alsbald durchfuhr ein ſtarkes Zittern
das liebliche Bild, wie in tauſend Linien brach das
Haupt und der Leib zuſammen, und eine Roſe
lag am Fuß des Pokales, aus deren Roͤthe noch
das ſuͤße Laͤcheln ſchien. Sehnſuͤchtig ergriff ſie
Ferdinand, druͤckte ſie an ſeinen Mund, und an
ſeinem brennenden Verlangen verwelkte ſie, und
war in Luft zerfloſſen.
Du haſt ſchlecht dein Wort gehalten, ſagte
der Alte verdruͤßlich, du kannſt dir nur ſelber die
Schuld beimeſſen. Er verhuͤllte ſeinen Pokal wie-
der, zog die Vorhaͤnge auf und eroͤffnete ein Fen-
ſter, das helle Tageslicht brach herein, und Fer-
dinand verließ wehmuͤthig und mit vielen Entſchul-
digungen den murrenden Alten.
Er eilte bewegt durch die Straßen der Stadt.
Vor dem Thore ſetzte er ſich unter den Baͤumen
nieder. Sie hatte ihm am Morgen geſagt, daß
ſie mit einigen Verwandten Abends uͤber Land fah-
ren muͤſſe. Bald ſaß, bald wanderte er liebetrun-
ken im Walde; immer ſah er das holdſelige Bild,
wie es mehr und mehr aus dem gluͤhenden Golde
quoll, jetzt erwartete er, ſie heraus ſchreiten zu
ſehn im Glanze ihrer Schoͤnheit, und dann zer-
brach die ſchoͤnſte Form vor ſeinen Augen, und er
zuͤrnte mit ſich, daß er durch ſeine raſtloſe Liebe
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/451>, abgerufen am 01.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.