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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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streben, die Scrupulosität, sofern noch dergleichen übrig ist,
überwunden. Die Scham ist Thorheit für denjenigen, der
da weiss, was er thut, der also seine Handlungen abwägt
und ihren Werth misst an ihrem Erfolge, dem gewissen
oder wahrscheinlichen; wenn er also erwartet, dem Tadel
der Anderen zu begegnen, so wird er untersuchen, ein wie
grosses Uebel dieses für ihn sei und ob nicht 1) der Schmerz,
2) der Schade, d. i. der bewirkte zukünftige Schmerz, durch
die zugleich sich ergebenden Vortheile mehr als aufgewogen
werden. Es gibt kein absolutes Uebel, ausser dem Abs-
tractum: Schmerz, und kein absolutes Gut, ausser dem
Abstractum: Lust. Scham aber ist trotzig und setzt abso-
lutes Verbot, absolute Missbilligung gewissen Neigungen
entgegen. Und so ist zu verstehen, wie dieselbe dem Ge-
bildeten, Bewussten unangemessen sei. Wenn man nun
aber der Thatsache sich erinnert, dass die Scham ihre tiefste
Kraft gewinnt als Scham der Sünde und Sündhaftigkeit,
und dass überhaupt Gewissen seinen gedankenhaften
Ausdruck und seine Stütze findet im religiösen Glauben;
so wird erst deutlich, wie der jetzt bezeichnete Gegensatz
hauptsächlich auf die Denkungsart sich erstreckt und schein-
bar eine blos theoretische Bedeutung gewinnt; wie denn
allerdings aus dem Unglauben des Individuums seine Ge-
wissenlosigkeit nicht folgt. Aber die Zerstörung des Glau-
bens als des objectiven Gewissens macht das subjective
Gewissen zu einem schwachen Widerstande. Ueber die
Wurzeln kann man noch stolpern, wenn man den Baum
niedergeschlagen hat; aber man wird nicht mehr mit dem
Schädel dawiderrennen. Nun ist der Glaube ebenso sehr
volksthümlich, als der Unglaube wissenschaftlich und gebildet
ist. Wenn daher ein Dichter und Seher als das eigent-
liche Thema der Welthistorie den Kampf zwischen
Glauben und Unglauben bezeichnet hat, so hätte er den-
selben erläutern mögen als einen Kampf zwischen dem
Volke und den Gebildeten. Und dieselbe Bedeutung hat
auch der Gegensatz des weiblichen und männlichen Ge-
schlechtes. Denn die Weiber sind gläubig, die Männer
ungläubig. Ja, wir werden ihn auch in den Lebensaltern
wiederfinden. Ist doch Frömmigkeit kindlich und bleibt

streben, die Scrupulosität, sofern noch dergleichen übrig ist,
überwunden. Die Scham ist Thorheit für denjenigen, der
da weiss, was er thut, der also seine Handlungen abwägt
und ihren Werth misst an ihrem Erfolge, dem gewissen
oder wahrscheinlichen; wenn er also erwartet, dem Tadel
der Anderen zu begegnen, so wird er untersuchen, ein wie
grosses Uebel dieses für ihn sei und ob nicht 1) der Schmerz,
2) der Schade, d. i. der bewirkte zukünftige Schmerz, durch
die zugleich sich ergebenden Vortheile mehr als aufgewogen
werden. Es gibt kein absolutes Uebel, ausser dem Abs-
tractum: Schmerz, und kein absolutes Gut, ausser dem
Abstractum: Lust. Scham aber ist trotzig und setzt abso-
lutes Verbot, absolute Missbilligung gewissen Neigungen
entgegen. Und so ist zu verstehen, wie dieselbe dem Ge-
bildeten, Bewussten unangemessen sei. Wenn man nun
aber der Thatsache sich erinnert, dass die Scham ihre tiefste
Kraft gewinnt als Scham der Sünde und Sündhaftigkeit,
und dass überhaupt Gewissen seinen gedankenhaften
Ausdruck und seine Stütze findet im religiösen Glauben;
so wird erst deutlich, wie der jetzt bezeichnete Gegensatz
hauptsächlich auf die Denkungsart sich erstreckt und schein-
bar eine blos theoretische Bedeutung gewinnt; wie denn
allerdings aus dem Unglauben des Individuums seine Ge-
wissenlosigkeit nicht folgt. Aber die Zerstörung des Glau-
bens als des objectiven Gewissens macht das subjective
Gewissen zu einem schwachen Widerstande. Ueber die
Wurzeln kann man noch stolpern, wenn man den Baum
niedergeschlagen hat; aber man wird nicht mehr mit dem
Schädel dawiderrennen. Nun ist der Glaube ebenso sehr
volksthümlich, als der Unglaube wissenschaftlich und gebildet
ist. Wenn daher ein Dichter und Seher als das eigent-
liche Thema der Welthistorie den Kampf zwischen
Glauben und Unglauben bezeichnet hat, so hätte er den-
selben erläutern mögen als einen Kampf zwischen dem
Volke und den Gebildeten. Und dieselbe Bedeutung hat
auch der Gegensatz des weiblichen und männlichen Ge-
schlechtes. Denn die Weiber sind gläubig, die Männer
ungläubig. Ja, wir werden ihn auch in den Lebensaltern
wiederfinden. Ist doch Frömmigkeit kindlich und bleibt

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[182/0218] streben, die Scrupulosität, sofern noch dergleichen übrig ist, überwunden. Die Scham ist Thorheit für denjenigen, der da weiss, was er thut, der also seine Handlungen abwägt und ihren Werth misst an ihrem Erfolge, dem gewissen oder wahrscheinlichen; wenn er also erwartet, dem Tadel der Anderen zu begegnen, so wird er untersuchen, ein wie grosses Uebel dieses für ihn sei und ob nicht 1) der Schmerz, 2) der Schade, d. i. der bewirkte zukünftige Schmerz, durch die zugleich sich ergebenden Vortheile mehr als aufgewogen werden. Es gibt kein absolutes Uebel, ausser dem Abs- tractum: Schmerz, und kein absolutes Gut, ausser dem Abstractum: Lust. Scham aber ist trotzig und setzt abso- lutes Verbot, absolute Missbilligung gewissen Neigungen entgegen. Und so ist zu verstehen, wie dieselbe dem Ge- bildeten, Bewussten unangemessen sei. Wenn man nun aber der Thatsache sich erinnert, dass die Scham ihre tiefste Kraft gewinnt als Scham der Sünde und Sündhaftigkeit, und dass überhaupt Gewissen seinen gedankenhaften Ausdruck und seine Stütze findet im religiösen Glauben; so wird erst deutlich, wie der jetzt bezeichnete Gegensatz hauptsächlich auf die Denkungsart sich erstreckt und schein- bar eine blos theoretische Bedeutung gewinnt; wie denn allerdings aus dem Unglauben des Individuums seine Ge- wissenlosigkeit nicht folgt. Aber die Zerstörung des Glau- bens als des objectiven Gewissens macht das subjective Gewissen zu einem schwachen Widerstande. Ueber die Wurzeln kann man noch stolpern, wenn man den Baum niedergeschlagen hat; aber man wird nicht mehr mit dem Schädel dawiderrennen. Nun ist der Glaube ebenso sehr volksthümlich, als der Unglaube wissenschaftlich und gebildet ist. Wenn daher ein Dichter und Seher als das eigent- liche Thema der Welthistorie den Kampf zwischen Glauben und Unglauben bezeichnet hat, so hätte er den- selben erläutern mögen als einen Kampf zwischen dem Volke und den Gebildeten. Und dieselbe Bedeutung hat auch der Gegensatz des weiblichen und männlichen Ge- schlechtes. Denn die Weiber sind gläubig, die Männer ungläubig. Ja, wir werden ihn auch in den Lebensaltern wiederfinden. Ist doch Frömmigkeit kindlich und bleibt

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/218>, abgerufen am 26.04.2024.