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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
Gebrechen, daran der erstarrte Staat krankte; als die Zerstörung über
das alte Preußen hereinbrach, da sprach sich der König mit einer Klar-
heit, die seiner Umgebung schier unheimlich erschien, über die Ursachen
des tiefen Sturzes aus. Auch über die Mittel und Wege zur Besserung
dachte er oft, und mit eindringendem Verständniß nach; es war die volle
Wahrheit, wenn er späterhin auf die meisten Reformvorschläge Steins
und Scharnhorsts zu antworten pflegte: "diese Idee habe ich schon längst
gehabt." Nur das Eine, worauf Alles ankam, erkannte er nicht: die Un-
möglichkeit, durch Einzelreformen an dem fridericianischen Staate etwas
Wesentliches zu ändern.

Jenes harte System monarchischer Arbeitsvertheilung, das der erste
Friedrich Wilhelm und sein Sohn aufgerichtet, war das Werk eines plan-
vollen bewußten Willens; darin lag die einseitige Größe, der Charakter des
alten Preußens. Das ganze Werk war aus einem Gusse, wie von eisernen
Klammern gehalten; ein Pfeiler stützte den andern, die Gliederung der
Stände und die Ordnung der Verwaltung hingen untrennbar zusammen;
fiel ein Stein heraus, so stürzte das ganze Gebäude. Wollte man die
Vorrechte des Adels im Heere beseitigen, so mußte dem Edelmann erlaubt
werden bürgerliche Gewerbe zu treiben und Bauernhufen zu kaufen. Wollte
man den Bauern der Dienste und Frohnden entlasten, so konnte auch die
Trennung von Stadt und Land, das Zunftwesen und die Accise nicht
mehr aufrecht bleiben. Die Monarchie bedurfte einer Reform an Haupt
und Gliedern, sobald man einmal erkannte, daß die alten Formen der
Gesellschaft sich überlebt hatten. Aber zu solcher Einsicht war in Preußen
noch Niemand gelangt, auch nicht der Freiherr vom Stein.

Das erste Jahrzehnt Friedrich Wilhelms III., die bestverleumdete
und unbekannteste Epoche der preußischen Geschichte, war eine Zeit wohl-
gemeinter, aber völlig unfruchtbarer Reformversuche. Vor wenigen Jahren
noch war dieser Staat mit Recht als der bestregierte des Festlandes ge-
priesen worden; er hatte soeben erst -- so wähnte der gesammte Norden --
im Kampfe gegen die Revolution seine Lebenskraft bewährt. Und so ge-
schah, daß selbst der tadelsüchtige Freimuth der Norddeutschen kaum be-
merkte, wie Alles morsch ward in dem Gemeinwesen. Daß das neue
Jahrhundert auf Windesflügeln dahineilte, daß jetzt in kurzen Jahren
gewaltige Neubildungen der Geschichte sich vollzogen, welche vordem kaum
in Jahrzehnten gereift waren, daß in solchen Tagen zurückging wer nicht
vorwärts schritt, -- von diesem großen Wandel der Zeiten ahnte man
nichts in dem friedlichen Volke, das hinter dem Walle seiner Demar-
cationslinie mit philosophischer Ruhe beobachtete, wie "zwo gewalt'ge Na-
tionen ringen um der Welt alleinigen Besitz".

Die deutsche Gutherzigkeit ist immer geneigt von einem Thronfolger
das Höchste zu erwarten, doch selten hat sie in so überschwänglichen Hoff-
nungen geschwelgt wie bei dem Regierungsantritt dieses anspruchslosen

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Gebrechen, daran der erſtarrte Staat krankte; als die Zerſtörung über
das alte Preußen hereinbrach, da ſprach ſich der König mit einer Klar-
heit, die ſeiner Umgebung ſchier unheimlich erſchien, über die Urſachen
des tiefen Sturzes aus. Auch über die Mittel und Wege zur Beſſerung
dachte er oft, und mit eindringendem Verſtändniß nach; es war die volle
Wahrheit, wenn er ſpäterhin auf die meiſten Reformvorſchläge Steins
und Scharnhorſts zu antworten pflegte: „dieſe Idee habe ich ſchon längſt
gehabt.“ Nur das Eine, worauf Alles ankam, erkannte er nicht: die Un-
möglichkeit, durch Einzelreformen an dem fridericianiſchen Staate etwas
Weſentliches zu ändern.

Jenes harte Syſtem monarchiſcher Arbeitsvertheilung, das der erſte
Friedrich Wilhelm und ſein Sohn aufgerichtet, war das Werk eines plan-
vollen bewußten Willens; darin lag die einſeitige Größe, der Charakter des
alten Preußens. Das ganze Werk war aus einem Guſſe, wie von eiſernen
Klammern gehalten; ein Pfeiler ſtützte den andern, die Gliederung der
Stände und die Ordnung der Verwaltung hingen untrennbar zuſammen;
fiel ein Stein heraus, ſo ſtürzte das ganze Gebäude. Wollte man die
Vorrechte des Adels im Heere beſeitigen, ſo mußte dem Edelmann erlaubt
werden bürgerliche Gewerbe zu treiben und Bauernhufen zu kaufen. Wollte
man den Bauern der Dienſte und Frohnden entlaſten, ſo konnte auch die
Trennung von Stadt und Land, das Zunftweſen und die Acciſe nicht
mehr aufrecht bleiben. Die Monarchie bedurfte einer Reform an Haupt
und Gliedern, ſobald man einmal erkannte, daß die alten Formen der
Geſellſchaft ſich überlebt hatten. Aber zu ſolcher Einſicht war in Preußen
noch Niemand gelangt, auch nicht der Freiherr vom Stein.

Das erſte Jahrzehnt Friedrich Wilhelms III., die beſtverleumdete
und unbekannteſte Epoche der preußiſchen Geſchichte, war eine Zeit wohl-
gemeinter, aber völlig unfruchtbarer Reformverſuche. Vor wenigen Jahren
noch war dieſer Staat mit Recht als der beſtregierte des Feſtlandes ge-
prieſen worden; er hatte ſoeben erſt — ſo wähnte der geſammte Norden —
im Kampfe gegen die Revolution ſeine Lebenskraft bewährt. Und ſo ge-
ſchah, daß ſelbſt der tadelſüchtige Freimuth der Norddeutſchen kaum be-
merkte, wie Alles morſch ward in dem Gemeinweſen. Daß das neue
Jahrhundert auf Windesflügeln dahineilte, daß jetzt in kurzen Jahren
gewaltige Neubildungen der Geſchichte ſich vollzogen, welche vordem kaum
in Jahrzehnten gereift waren, daß in ſolchen Tagen zurückging wer nicht
vorwärts ſchritt, — von dieſem großen Wandel der Zeiten ahnte man
nichts in dem friedlichen Volke, das hinter dem Walle ſeiner Demar-
cationslinie mit philoſophiſcher Ruhe beobachtete, wie „zwo gewalt’ge Na-
tionen ringen um der Welt alleinigen Beſitz“.

Die deutſche Gutherzigkeit iſt immer geneigt von einem Thronfolger
das Höchſte zu erwarten, doch ſelten hat ſie in ſo überſchwänglichen Hoff-
nungen geſchwelgt wie bei dem Regierungsantritt dieſes anſpruchsloſen

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[150/0166] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. Gebrechen, daran der erſtarrte Staat krankte; als die Zerſtörung über das alte Preußen hereinbrach, da ſprach ſich der König mit einer Klar- heit, die ſeiner Umgebung ſchier unheimlich erſchien, über die Urſachen des tiefen Sturzes aus. Auch über die Mittel und Wege zur Beſſerung dachte er oft, und mit eindringendem Verſtändniß nach; es war die volle Wahrheit, wenn er ſpäterhin auf die meiſten Reformvorſchläge Steins und Scharnhorſts zu antworten pflegte: „dieſe Idee habe ich ſchon längſt gehabt.“ Nur das Eine, worauf Alles ankam, erkannte er nicht: die Un- möglichkeit, durch Einzelreformen an dem fridericianiſchen Staate etwas Weſentliches zu ändern. Jenes harte Syſtem monarchiſcher Arbeitsvertheilung, das der erſte Friedrich Wilhelm und ſein Sohn aufgerichtet, war das Werk eines plan- vollen bewußten Willens; darin lag die einſeitige Größe, der Charakter des alten Preußens. Das ganze Werk war aus einem Guſſe, wie von eiſernen Klammern gehalten; ein Pfeiler ſtützte den andern, die Gliederung der Stände und die Ordnung der Verwaltung hingen untrennbar zuſammen; fiel ein Stein heraus, ſo ſtürzte das ganze Gebäude. Wollte man die Vorrechte des Adels im Heere beſeitigen, ſo mußte dem Edelmann erlaubt werden bürgerliche Gewerbe zu treiben und Bauernhufen zu kaufen. Wollte man den Bauern der Dienſte und Frohnden entlaſten, ſo konnte auch die Trennung von Stadt und Land, das Zunftweſen und die Acciſe nicht mehr aufrecht bleiben. Die Monarchie bedurfte einer Reform an Haupt und Gliedern, ſobald man einmal erkannte, daß die alten Formen der Geſellſchaft ſich überlebt hatten. Aber zu ſolcher Einſicht war in Preußen noch Niemand gelangt, auch nicht der Freiherr vom Stein. Das erſte Jahrzehnt Friedrich Wilhelms III., die beſtverleumdete und unbekannteſte Epoche der preußiſchen Geſchichte, war eine Zeit wohl- gemeinter, aber völlig unfruchtbarer Reformverſuche. Vor wenigen Jahren noch war dieſer Staat mit Recht als der beſtregierte des Feſtlandes ge- prieſen worden; er hatte ſoeben erſt — ſo wähnte der geſammte Norden — im Kampfe gegen die Revolution ſeine Lebenskraft bewährt. Und ſo ge- ſchah, daß ſelbſt der tadelſüchtige Freimuth der Norddeutſchen kaum be- merkte, wie Alles morſch ward in dem Gemeinweſen. Daß das neue Jahrhundert auf Windesflügeln dahineilte, daß jetzt in kurzen Jahren gewaltige Neubildungen der Geſchichte ſich vollzogen, welche vordem kaum in Jahrzehnten gereift waren, daß in ſolchen Tagen zurückging wer nicht vorwärts ſchritt, — von dieſem großen Wandel der Zeiten ahnte man nichts in dem friedlichen Volke, das hinter dem Walle ſeiner Demar- cationslinie mit philoſophiſcher Ruhe beobachtete, wie „zwo gewalt’ge Na- tionen ringen um der Welt alleinigen Beſitz“. Die deutſche Gutherzigkeit iſt immer geneigt von einem Thronfolger das Höchſte zu erwarten, doch ſelten hat ſie in ſo überſchwänglichen Hoff- nungen geſchwelgt wie bei dem Regierungsantritt dieſes anſpruchsloſen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/166>, abgerufen am 30.04.2024.