III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod.
Kirche wohl gefühlt und für die Organisation einer umfassenden Landes- kirche niemals ein Verständniß gezeigt hat. Auch amtlich trat er für seine Ueberzeugung ein, indem er mit noch elf anderen angesehenen Berliner Geistlichen eine nachdrückliche Vorstellung gegen die Agende einreichte. Dann wendete er sich wider die liturgische Flugschrift des Königs selber; er unterwarf sie in einem "Gespräche zweier Christen" einer scharfen Kritik und scheute sich nicht zu gestehen, daß er den ungenannten Verfasser wohl kenne. Dies Gespräch fand in der Leserwelt geringen Widerhall, weil die gewundene Dialektik platonischer Dialoge dem modernen Geschmack fremd- artig und künstlich erscheint. Um so größer war die Entrüstung in der amtlichen Welt. Geh. Rath Kamptz, der natürlich unbedingt für das liturgische Recht des Monarchen eintrat, verlangte stürmisch die Bestra- fung der unerhörten Frechheit. Schon seit Jahren gepeinigt durch aller- hand kleine Nadelstiche des bureaukratischen Unmuths, erwartete Schleier- macher täglich seine Entlassung, und nach glaubwürdigen Mittheilungen war Altenstein selbst einmal nahe daran sie zu verfügen. Der König aber dachte hoch von diesem Gegner, er wünschte dringend ihn zu gewinnen und ließ ihn frei gewähren.
Nachhaltiger als diese Kämpfe auf den Höhen der theologischen Wis- senschaft wirkte der zähe Widerstand, welchen die Stillen im Lande der Agende entgegensetzten; denn jederzeit hat das religiöse Gefühl in den breiten Massen des Volks, unter den Mühseligen und Beladenen seine höchste Kraft offenbart. Von Altersher bestanden in allen Provinzen zer- streut allerhand kleine Conventikel von Gottseligen, die sich von dem vor- herrschenden Rationalismus der Landeskirche scheu absonderten. Ihre Zahl hatte sich vermehrt seit den Heimsuchungen der Kriegsjahre, und man pflegte in diesen Kreisen das neue Jahrhundert gern als die Zeit der Erweckung zu bezeichnen. Es waren zumeist kleine Leute unter der Führung einzelner Edelleute oder Gelehrten, nach der Weise des alten Pietismus leidsam und ruheselig gegenüber der Obrigkeit, aber sehr reiz- bar gegen jede Störung ihres kirchlichen Herkommens. Ein solcher Kreis von Erweckten sammelte sich in Hinterpommern um Senfft-Pilsach, den vertrauten Freund des Kronprinzen, und die Gebrüder v. Below. Im gleichen Geiste wirkte in Berlin und den armen Weberdörfern des Riesen- gebirges Freiherr v. Kottwitz, der fromme Baron, wie das Volk ihn nannte, ein ehrwürdiger Patriarch, unermüdlich in werkthätiger Liebe, ein Vor- läufer der inneren Mission; hunderte der brotlosen Berliner Arbeiter hatten während der Kriegsjahre bei ihm in der alten Kaserne am Alex- anderplatze Obdach, Pflege und Erbauung gefunden. Nach seinem Vorbild errichtete jetzt Graf A. v. d. Recke ein Rettungshaus am Niederrhein. Minder unschuldig war die verzückte Schwärmerei einer aufgeregten Sekte, die in Königsberg den mystischen Lehren des frommen Sonderlings Schön- herr folgte. Am trotzigsten aber traten die Breslauer Altlutheraner auf.
III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Kirche wohl gefühlt und für die Organiſation einer umfaſſenden Landes- kirche niemals ein Verſtändniß gezeigt hat. Auch amtlich trat er für ſeine Ueberzeugung ein, indem er mit noch elf anderen angeſehenen Berliner Geiſtlichen eine nachdrückliche Vorſtellung gegen die Agende einreichte. Dann wendete er ſich wider die liturgiſche Flugſchrift des Königs ſelber; er unterwarf ſie in einem „Geſpräche zweier Chriſten“ einer ſcharfen Kritik und ſcheute ſich nicht zu geſtehen, daß er den ungenannten Verfaſſer wohl kenne. Dies Geſpräch fand in der Leſerwelt geringen Widerhall, weil die gewundene Dialektik platoniſcher Dialoge dem modernen Geſchmack fremd- artig und künſtlich erſcheint. Um ſo größer war die Entrüſtung in der amtlichen Welt. Geh. Rath Kamptz, der natürlich unbedingt für das liturgiſche Recht des Monarchen eintrat, verlangte ſtürmiſch die Beſtra- fung der unerhörten Frechheit. Schon ſeit Jahren gepeinigt durch aller- hand kleine Nadelſtiche des bureaukratiſchen Unmuths, erwartete Schleier- macher täglich ſeine Entlaſſung, und nach glaubwürdigen Mittheilungen war Altenſtein ſelbſt einmal nahe daran ſie zu verfügen. Der König aber dachte hoch von dieſem Gegner, er wünſchte dringend ihn zu gewinnen und ließ ihn frei gewähren.
Nachhaltiger als dieſe Kämpfe auf den Höhen der theologiſchen Wiſ- ſenſchaft wirkte der zähe Widerſtand, welchen die Stillen im Lande der Agende entgegenſetzten; denn jederzeit hat das religiöſe Gefühl in den breiten Maſſen des Volks, unter den Mühſeligen und Beladenen ſeine höchſte Kraft offenbart. Von Altersher beſtanden in allen Provinzen zer- ſtreut allerhand kleine Conventikel von Gottſeligen, die ſich von dem vor- herrſchenden Rationalismus der Landeskirche ſcheu abſonderten. Ihre Zahl hatte ſich vermehrt ſeit den Heimſuchungen der Kriegsjahre, und man pflegte in dieſen Kreiſen das neue Jahrhundert gern als die Zeit der Erweckung zu bezeichnen. Es waren zumeiſt kleine Leute unter der Führung einzelner Edelleute oder Gelehrten, nach der Weiſe des alten Pietismus leidſam und ruheſelig gegenüber der Obrigkeit, aber ſehr reiz- bar gegen jede Störung ihres kirchlichen Herkommens. Ein ſolcher Kreis von Erweckten ſammelte ſich in Hinterpommern um Senfft-Pilſach, den vertrauten Freund des Kronprinzen, und die Gebrüder v. Below. Im gleichen Geiſte wirkte in Berlin und den armen Weberdörfern des Rieſen- gebirges Freiherr v. Kottwitz, der fromme Baron, wie das Volk ihn nannte, ein ehrwürdiger Patriarch, unermüdlich in werkthätiger Liebe, ein Vor- läufer der inneren Miſſion; hunderte der brotloſen Berliner Arbeiter hatten während der Kriegsjahre bei ihm in der alten Kaſerne am Alex- anderplatze Obdach, Pflege und Erbauung gefunden. Nach ſeinem Vorbild errichtete jetzt Graf A. v. d. Recke ein Rettungshaus am Niederrhein. Minder unſchuldig war die verzückte Schwärmerei einer aufgeregten Sekte, die in Königsberg den myſtiſchen Lehren des frommen Sonderlings Schön- herr folgte. Am trotzigſten aber traten die Breslauer Altlutheraner auf.
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III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Kirche wohl gefühlt und für die Organiſation einer umfaſſenden Landes-
kirche niemals ein Verſtändniß gezeigt hat. Auch amtlich trat er für ſeine
Ueberzeugung ein, indem er mit noch elf anderen angeſehenen Berliner
Geiſtlichen eine nachdrückliche Vorſtellung gegen die Agende einreichte.
Dann wendete er ſich wider die liturgiſche Flugſchrift des Königs ſelber;
er unterwarf ſie in einem „Geſpräche zweier Chriſten“ einer ſcharfen Kritik
und ſcheute ſich nicht zu geſtehen, daß er den ungenannten Verfaſſer wohl
kenne. Dies Geſpräch fand in der Leſerwelt geringen Widerhall, weil die
gewundene Dialektik platoniſcher Dialoge dem modernen Geſchmack fremd-
artig und künſtlich erſcheint. Um ſo größer war die Entrüſtung in der
amtlichen Welt. Geh. Rath Kamptz, der natürlich unbedingt für das
liturgiſche Recht des Monarchen eintrat, verlangte ſtürmiſch die Beſtra-
fung der unerhörten Frechheit. Schon ſeit Jahren gepeinigt durch aller-
hand kleine Nadelſtiche des bureaukratiſchen Unmuths, erwartete Schleier-
macher täglich ſeine Entlaſſung, und nach glaubwürdigen Mittheilungen
war Altenſtein ſelbſt einmal nahe daran ſie zu verfügen. Der König aber
dachte hoch von dieſem Gegner, er wünſchte dringend ihn zu gewinnen
und ließ ihn frei gewähren.
Nachhaltiger als dieſe Kämpfe auf den Höhen der theologiſchen Wiſ-
ſenſchaft wirkte der zähe Widerſtand, welchen die Stillen im Lande der
Agende entgegenſetzten; denn jederzeit hat das religiöſe Gefühl in den
breiten Maſſen des Volks, unter den Mühſeligen und Beladenen ſeine
höchſte Kraft offenbart. Von Altersher beſtanden in allen Provinzen zer-
ſtreut allerhand kleine Conventikel von Gottſeligen, die ſich von dem vor-
herrſchenden Rationalismus der Landeskirche ſcheu abſonderten. Ihre
Zahl hatte ſich vermehrt ſeit den Heimſuchungen der Kriegsjahre, und
man pflegte in dieſen Kreiſen das neue Jahrhundert gern als die Zeit
der Erweckung zu bezeichnen. Es waren zumeiſt kleine Leute unter der
Führung einzelner Edelleute oder Gelehrten, nach der Weiſe des alten
Pietismus leidſam und ruheſelig gegenüber der Obrigkeit, aber ſehr reiz-
bar gegen jede Störung ihres kirchlichen Herkommens. Ein ſolcher Kreis
von Erweckten ſammelte ſich in Hinterpommern um Senfft-Pilſach, den
vertrauten Freund des Kronprinzen, und die Gebrüder v. Below. Im
gleichen Geiſte wirkte in Berlin und den armen Weberdörfern des Rieſen-
gebirges Freiherr v. Kottwitz, der fromme Baron, wie das Volk ihn nannte,
ein ehrwürdiger Patriarch, unermüdlich in werkthätiger Liebe, ein Vor-
läufer der inneren Miſſion; hunderte der brotloſen Berliner Arbeiter
hatten während der Kriegsjahre bei ihm in der alten Kaſerne am Alex-
anderplatze Obdach, Pflege und Erbauung gefunden. Nach ſeinem Vorbild
errichtete jetzt Graf A. v. d. Recke ein Rettungshaus am Niederrhein.
Minder unſchuldig war die verzückte Schwärmerei einer aufgeregten Sekte,
die in Königsberg den myſtiſchen Lehren des frommen Sonderlings Schön-
herr folgte. Am trotzigſten aber traten die Breslauer Altlutheraner auf.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/416>, abgerufen am 16.06.2024.
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