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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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nicht allzustarker Wechsel von Kalt und Heiß wie in den breiten conti-
nentalen Steppen-Ebenen, dieß ist die atmosphärische Grundbedingung;
eisige Kälte, übersteigernde Hitze, zu starke klimatische Kontraste erzeugen
"die stabilen Völker der Erde, die Wanderstämme der Jäger, Fischer,
Hirten und die vermeintlich paradiesischen, scheinbar bevorzugten Natur-
kinder" (Roon, Grundzüge der Erd- Völker- und Staatenkunde B. 1,
S. 156). Unter den tellurischen Formen begünstigt thal- und wasserreiches
Hochgebirge die schöne Entwicklung. Dagegen ist kahle Hochsteppe ungünstig,
sie erzieht nur unstete Nomaden. Die eigentlichen Cultursitze aber sind
die Uebergangs- oder Mittelgebirgs-Länder, die mittleren Stufenländer,
von Flüßen belebte, von mäßigen Gebirgen durchzogene Thäler, eine
Mannigfaltigkeit der Bodengestaltung, welche sowohl die Einförmigkeit
allzubreiter Ebenen, als die beengende Last öder Hochgebirge ausschließt;
"in diesen lieblichen Thälern, diesen reizenden Landschaften war gut Hütten
bauen, weil sie in der Regel so anmuthig als fruchtbar sind" (Roon a. a. O.).
Hier blüht der Ackerbau, die Grundlage aller Bildung; von da aus wird
denn auch die Tief-Ebene von der Cultur überzogen; mag sie selbst Steppe
oder Wüste sein, sie bietet keine Schranke und als Küstenland führt sie
an's Meer: eine der wesentlichsten Bedingungen schöner menschlicher
Entwicklung; denn selbst noch abgesehen von Handel und Schifffahrt
athmet es sich anders, hebt sich Auge, Brust und Gedanke anders, wo sie
hinausdringen in das schrankenlos ergossene, ewig bewegte, kühle und
reine Naß. Das Meer duldet keine Philister, nur eingeschlossene Binnen-
wohner können verknöchern wie die Deutschen. Man könnte dagegen die
Holländer und Engländer anführen, allein sie haben Thatkraft und ihr
unternehmender Geist hat zur Zeit, da die eigentlichen Deutschen schon
politisch abstarben, der Kunst die gewaltigsten Stoffe geboten.

Diese Naturverhältnisse lassen nun natürlich einen Reichthum von
Abstufungen zu. Die nördlicheren Völker Europa's haben einen viel härteren
Kampf mit der Natur, als die südlichen; die östlichen stehen an der Grenze der
Verweichlichung durch die Ueppigkeit ihrer Lüste, ihres Bodens. Gerade
diese Abstufungen aber erzeugen Mannigfaltigkeit der Formen, Reichthum
verschiedener Stellungen der Momente des Schönen, je nachdem das
geistige Leben von einer härteren Natur in sich zurückgeworfen und zugleich
zum herben Kampfe aufgefordert oder von einer weicheren in sinnlichen
Taumel herausgelockt oder in schönes Gleichgewicht mit der Sinnlichkeit
versetzt wird. Das Glück dieses Gleichgewichts genießen am meisten die
südlichen Völker, doch können wir die morgenländischen, wo der Genuß,
die nördlichen, wo die Anstrengung überwiegt, wo z. B. der Niederländer
mühsam die einförmigen Dünen gegen das Meer befestigt, immer wohl
noch unter den Satz unseres §. befassen. Die Grenze, wo die Extreme

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nicht allzuſtarker Wechſel von Kalt und Heiß wie in den breiten conti-
nentalen Steppen-Ebenen, dieß iſt die atmoſphäriſche Grundbedingung;
eiſige Kälte, überſteigernde Hitze, zu ſtarke klimatiſche Kontraſte erzeugen
„die ſtabilen Völker der Erde, die Wanderſtämme der Jäger, Fiſcher,
Hirten und die vermeintlich paradieſiſchen, ſcheinbar bevorzugten Natur-
kinder“ (Roon, Grundzüge der Erd- Völker- und Staatenkunde B. 1,
S. 156). Unter den telluriſchen Formen begünſtigt thal- und waſſerreiches
Hochgebirge die ſchöne Entwicklung. Dagegen iſt kahle Hochſteppe ungünſtig,
ſie erzieht nur unſtete Nomaden. Die eigentlichen Culturſitze aber ſind
die Uebergangs- oder Mittelgebirgs-Länder, die mittleren Stufenländer,
von Flüßen belebte, von mäßigen Gebirgen durchzogene Thäler, eine
Mannigfaltigkeit der Bodengeſtaltung, welche ſowohl die Einförmigkeit
allzubreiter Ebenen, als die beengende Laſt öder Hochgebirge ausſchließt;
„in dieſen lieblichen Thälern, dieſen reizenden Landſchaften war gut Hütten
bauen, weil ſie in der Regel ſo anmuthig als fruchtbar ſind“ (Roon a. a. O.).
Hier blüht der Ackerbau, die Grundlage aller Bildung; von da aus wird
denn auch die Tief-Ebene von der Cultur überzogen; mag ſie ſelbſt Steppe
oder Wüſte ſein, ſie bietet keine Schranke und als Küſtenland führt ſie
an’s Meer: eine der weſentlichſten Bedingungen ſchöner menſchlicher
Entwicklung; denn ſelbſt noch abgeſehen von Handel und Schifffahrt
athmet es ſich anders, hebt ſich Auge, Bruſt und Gedanke anders, wo ſie
hinausdringen in das ſchrankenlos ergoſſene, ewig bewegte, kühle und
reine Naß. Das Meer duldet keine Philiſter, nur eingeſchloſſene Binnen-
wohner können verknöchern wie die Deutſchen. Man könnte dagegen die
Holländer und Engländer anführen, allein ſie haben Thatkraft und ihr
unternehmender Geiſt hat zur Zeit, da die eigentlichen Deutſchen ſchon
politiſch abſtarben, der Kunſt die gewaltigſten Stoffe geboten.

Dieſe Naturverhältniſſe laſſen nun natürlich einen Reichthum von
Abſtufungen zu. Die nördlicheren Völker Europa’s haben einen viel härteren
Kampf mit der Natur, als die ſüdlichen; die öſtlichen ſtehen an der Grenze der
Verweichlichung durch die Ueppigkeit ihrer Lüſte, ihres Bodens. Gerade
dieſe Abſtufungen aber erzeugen Mannigfaltigkeit der Formen, Reichthum
verſchiedener Stellungen der Momente des Schönen, je nachdem das
geiſtige Leben von einer härteren Natur in ſich zurückgeworfen und zugleich
zum herben Kampfe aufgefordert oder von einer weicheren in ſinnlichen
Taumel herausgelockt oder in ſchönes Gleichgewicht mit der Sinnlichkeit
verſetzt wird. Das Glück dieſes Gleichgewichts genießen am meiſten die
ſüdlichen Völker, doch können wir die morgenländiſchen, wo der Genuß,
die nördlichen, wo die Anſtrengung überwiegt, wo z. B. der Niederländer
mühſam die einförmigen Dünen gegen das Meer befeſtigt, immer wohl
noch unter den Satz unſeres §. befaſſen. Die Grenze, wo die Extreme

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[179/0191] nicht allzuſtarker Wechſel von Kalt und Heiß wie in den breiten conti- nentalen Steppen-Ebenen, dieß iſt die atmoſphäriſche Grundbedingung; eiſige Kälte, überſteigernde Hitze, zu ſtarke klimatiſche Kontraſte erzeugen „die ſtabilen Völker der Erde, die Wanderſtämme der Jäger, Fiſcher, Hirten und die vermeintlich paradieſiſchen, ſcheinbar bevorzugten Natur- kinder“ (Roon, Grundzüge der Erd- Völker- und Staatenkunde B. 1, S. 156). Unter den telluriſchen Formen begünſtigt thal- und waſſerreiches Hochgebirge die ſchöne Entwicklung. Dagegen iſt kahle Hochſteppe ungünſtig, ſie erzieht nur unſtete Nomaden. Die eigentlichen Culturſitze aber ſind die Uebergangs- oder Mittelgebirgs-Länder, die mittleren Stufenländer, von Flüßen belebte, von mäßigen Gebirgen durchzogene Thäler, eine Mannigfaltigkeit der Bodengeſtaltung, welche ſowohl die Einförmigkeit allzubreiter Ebenen, als die beengende Laſt öder Hochgebirge ausſchließt; „in dieſen lieblichen Thälern, dieſen reizenden Landſchaften war gut Hütten bauen, weil ſie in der Regel ſo anmuthig als fruchtbar ſind“ (Roon a. a. O.). Hier blüht der Ackerbau, die Grundlage aller Bildung; von da aus wird denn auch die Tief-Ebene von der Cultur überzogen; mag ſie ſelbſt Steppe oder Wüſte ſein, ſie bietet keine Schranke und als Küſtenland führt ſie an’s Meer: eine der weſentlichſten Bedingungen ſchöner menſchlicher Entwicklung; denn ſelbſt noch abgeſehen von Handel und Schifffahrt athmet es ſich anders, hebt ſich Auge, Bruſt und Gedanke anders, wo ſie hinausdringen in das ſchrankenlos ergoſſene, ewig bewegte, kühle und reine Naß. Das Meer duldet keine Philiſter, nur eingeſchloſſene Binnen- wohner können verknöchern wie die Deutſchen. Man könnte dagegen die Holländer und Engländer anführen, allein ſie haben Thatkraft und ihr unternehmender Geiſt hat zur Zeit, da die eigentlichen Deutſchen ſchon politiſch abſtarben, der Kunſt die gewaltigſten Stoffe geboten. Dieſe Naturverhältniſſe laſſen nun natürlich einen Reichthum von Abſtufungen zu. Die nördlicheren Völker Europa’s haben einen viel härteren Kampf mit der Natur, als die ſüdlichen; die öſtlichen ſtehen an der Grenze der Verweichlichung durch die Ueppigkeit ihrer Lüſte, ihres Bodens. Gerade dieſe Abſtufungen aber erzeugen Mannigfaltigkeit der Formen, Reichthum verſchiedener Stellungen der Momente des Schönen, je nachdem das geiſtige Leben von einer härteren Natur in ſich zurückgeworfen und zugleich zum herben Kampfe aufgefordert oder von einer weicheren in ſinnlichen Taumel herausgelockt oder in ſchönes Gleichgewicht mit der Sinnlichkeit verſetzt wird. Das Glück dieſes Gleichgewichts genießen am meiſten die ſüdlichen Völker, doch können wir die morgenländiſchen, wo der Genuß, die nördlichen, wo die Anſtrengung überwiegt, wo z. B. der Niederländer mühſam die einförmigen Dünen gegen das Meer befeſtigt, immer wohl noch unter den Satz unſeres §. befaſſen. Die Grenze, wo die Extreme 12*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/191>, abgerufen am 30.04.2024.