Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

legte sich zwischen ihnen hervor wie ein langer Frack
über die Bühne. Im damaligen Publikum gab es
keinen Zuschauer, der den Ton nicht ganz gut kannte;
von unsern heutigen Lesern kennen wohl nur wenige
den Ruf der Rohrdommel so gut, sie hätten erst warten
müssen, bis dieser Wasservogel, der Selinur heilig,
nun in Person auf der Bühne erschien und seinen
unheimlichen Geisterruf wiederholte, nicht in Einem
nur, sondern in sechs Exemplaren, die gravitätisch wie
Soldaten eintraten, sich in drei und drei theilten und
nun wie beorderte Leibwachen freien Raum für eine
noch unsichtbare, ehrfurchtsvoll erwartete Persönlichkeit
herstellten. Die übrigen Thiere drängten sich willig hinter
diesen lebendigen Spalieren zusammen. Die gelben,
schwarzgefleckten Bewohner des Röhrichts ließen hier¬
auf wieder ihren seltsamen Brüll- und Klageruf ver¬
nehmen, reckten dabei die dicken Hälse lang vorwärts,
zogen sie dann ein und stellten die Köpfe, die jetzt
halslos auf dem Rumpfe zu ruhen schienen, steil auf¬
wärts, daß der Schnabel zum Himmel sah, und so
standen sie nun als unbewegte Schildwachen, aller¬
dings nur auf Einem Bein oder vielmehr "Ständer",
wie der schulgerechte Jäger sagt. -- Stumme, erwar¬
tungsvolle Pause. Da wandelt aus dem Wald eine
schneeweiße Kuh hervor und stellt sich mitten in die
Oeffnung der zwei von hier in die Breite der Bühne
auslaufenden Spalierradien. Sie blickt sanft und groß.

legte ſich zwiſchen ihnen hervor wie ein langer Frack
über die Bühne. Im damaligen Publikum gab es
keinen Zuſchauer, der den Ton nicht ganz gut kannte;
von unſern heutigen Leſern kennen wohl nur wenige
den Ruf der Rohrdommel ſo gut, ſie hätten erſt warten
müſſen, bis dieſer Waſſervogel, der Selinur heilig,
nun in Perſon auf der Bühne erſchien und ſeinen
unheimlichen Geiſterruf wiederholte, nicht in Einem
nur, ſondern in ſechs Exemplaren, die gravitätiſch wie
Soldaten eintraten, ſich in drei und drei theilten und
nun wie beorderte Leibwachen freien Raum für eine
noch unſichtbare, ehrfurchtsvoll erwartete Perſönlichkeit
herſtellten. Die übrigen Thiere drängten ſich willig hinter
dieſen lebendigen Spalieren zuſammen. Die gelben,
ſchwarzgefleckten Bewohner des Röhrichts ließen hier¬
auf wieder ihren ſeltſamen Brüll- und Klageruf ver¬
nehmen, reckten dabei die dicken Hälſe lang vorwärts,
zogen ſie dann ein und ſtellten die Köpfe, die jetzt
halslos auf dem Rumpfe zu ruhen ſchienen, ſteil auf¬
wärts, daß der Schnabel zum Himmel ſah, und ſo
ſtanden ſie nun als unbewegte Schildwachen, aller¬
dings nur auf Einem Bein oder vielmehr „Ständer“,
wie der ſchulgerechte Jäger ſagt. — Stumme, erwar¬
tungsvolle Pauſe. Da wandelt aus dem Wald eine
ſchneeweiße Kuh hervor und ſtellt ſich mitten in die
Oeffnung der zwei von hier in die Breite der Bühne
auslaufenden Spalierradien. Sie blickt ſanft und groß.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0365" n="352"/>
legte &#x017F;ich zwi&#x017F;chen ihnen hervor wie ein langer Frack<lb/>
über die Bühne. Im damaligen Publikum gab es<lb/>
keinen Zu&#x017F;chauer, der den Ton nicht ganz gut kannte;<lb/>
von un&#x017F;ern heutigen Le&#x017F;ern kennen wohl nur wenige<lb/>
den Ruf der Rohrdommel &#x017F;o gut, &#x017F;ie hätten er&#x017F;t warten<lb/>&#x017F;&#x017F;en, bis die&#x017F;er Wa&#x017F;&#x017F;ervogel, der Selinur heilig,<lb/>
nun in Per&#x017F;on auf der Bühne er&#x017F;chien und &#x017F;einen<lb/>
unheimlichen Gei&#x017F;terruf wiederholte, nicht in Einem<lb/>
nur, &#x017F;ondern in &#x017F;echs Exemplaren, die gravitäti&#x017F;ch wie<lb/>
Soldaten eintraten, &#x017F;ich in drei und drei theilten und<lb/>
nun wie beorderte Leibwachen freien Raum für eine<lb/>
noch un&#x017F;ichtbare, ehrfurchtsvoll erwartete Per&#x017F;önlichkeit<lb/>
her&#x017F;tellten. Die übrigen Thiere drängten &#x017F;ich willig hinter<lb/>
die&#x017F;en lebendigen Spalieren zu&#x017F;ammen. Die gelben,<lb/>
&#x017F;chwarzgefleckten Bewohner des Röhrichts ließen hier¬<lb/>
auf wieder ihren &#x017F;elt&#x017F;amen Brüll- und Klageruf ver¬<lb/>
nehmen, reckten dabei die dicken Häl&#x017F;e lang vorwärts,<lb/>
zogen &#x017F;ie dann ein und &#x017F;tellten die Köpfe, die jetzt<lb/>
halslos auf dem Rumpfe zu ruhen &#x017F;chienen, &#x017F;teil auf¬<lb/>
wärts, daß der Schnabel zum Himmel &#x017F;ah, und &#x017F;o<lb/>
&#x017F;tanden &#x017F;ie nun als unbewegte Schildwachen, aller¬<lb/>
dings nur auf Einem Bein oder vielmehr &#x201E;Ständer&#x201C;,<lb/>
wie der &#x017F;chulgerechte Jäger &#x017F;agt. &#x2014; Stumme, erwar¬<lb/>
tungsvolle Pau&#x017F;e. Da wandelt aus dem Wald eine<lb/>
&#x017F;chneeweiße Kuh hervor und &#x017F;tellt &#x017F;ich mitten in die<lb/>
Oeffnung der zwei von hier in die Breite der Bühne<lb/>
auslaufenden Spalierradien. Sie blickt &#x017F;anft und groß.<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[352/0365] legte ſich zwiſchen ihnen hervor wie ein langer Frack über die Bühne. Im damaligen Publikum gab es keinen Zuſchauer, der den Ton nicht ganz gut kannte; von unſern heutigen Leſern kennen wohl nur wenige den Ruf der Rohrdommel ſo gut, ſie hätten erſt warten müſſen, bis dieſer Waſſervogel, der Selinur heilig, nun in Perſon auf der Bühne erſchien und ſeinen unheimlichen Geiſterruf wiederholte, nicht in Einem nur, ſondern in ſechs Exemplaren, die gravitätiſch wie Soldaten eintraten, ſich in drei und drei theilten und nun wie beorderte Leibwachen freien Raum für eine noch unſichtbare, ehrfurchtsvoll erwartete Perſönlichkeit herſtellten. Die übrigen Thiere drängten ſich willig hinter dieſen lebendigen Spalieren zuſammen. Die gelben, ſchwarzgefleckten Bewohner des Röhrichts ließen hier¬ auf wieder ihren ſeltſamen Brüll- und Klageruf ver¬ nehmen, reckten dabei die dicken Hälſe lang vorwärts, zogen ſie dann ein und ſtellten die Köpfe, die jetzt halslos auf dem Rumpfe zu ruhen ſchienen, ſteil auf¬ wärts, daß der Schnabel zum Himmel ſah, und ſo ſtanden ſie nun als unbewegte Schildwachen, aller¬ dings nur auf Einem Bein oder vielmehr „Ständer“, wie der ſchulgerechte Jäger ſagt. — Stumme, erwar¬ tungsvolle Pauſe. Da wandelt aus dem Wald eine ſchneeweiße Kuh hervor und ſtellt ſich mitten in die Oeffnung der zwei von hier in die Breite der Bühne auslaufenden Spalierradien. Sie blickt ſanft und groß.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/365
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/365>, abgerufen am 31.10.2024.