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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Zweytes Buch, sechstes Capitel.
Abwesenheit der Sonne das Unbehagliche dieses Zu-
stands. Der wiederkehrende Sonnenschein belebt, er-
muntert, erquiket meinen Körper wieder, und ich be-
finde mich wol, oder doch erleichtert. Eben diese Wür-
kung thut die Empfindung des alles beseelenden Geistes
auf meine Seele; sie erheitert, sie beruhiget, sie ermun-
tert mich; sie zerstreut meinen Unmuth, sie belebt mei-
ne Hofnung; sie macht, daß ich in einem Zustande nicht
unglüklich bin, der mir ohne sie unerträglich wäre.
Hippias.
Jch bin also glüklicher als du, weil ich alles dieses
nicht nöthig habe. Erfahrung und Nachdenken haben
mich von Vorurtheilen frey gemacht; ich geniesse alles
was ich wünsche, und wünsche nichts, dessen Genuß
nicht in meiner Gewalt ist. Jch weiß also wenig von
Unmuth und Sorgen. Jch hoffe wenig, weil ich mit
dem Genuß des Gegenwärtigen zu frieden bin. Jch
geniesse mit Mäßigung, damit ich desto länger genies-
sen könne, und wenn ich einen Schmerz fühle, so lei-
de ich mit Geduld, weil dieses das beste Mittel ist, seine
Dauer abzukürzen.
Agathon.
Und worauf gründest du deine Tugend? Womit
nährest und belebest du sie? Womit überwindest du
die Hinternisse, die sie aufhalten; die Versuchungen,
die von ihr abloken, das anstekende der Beyspiele, die
Unordnung der Begierden, und die Trägheit, welche
die Seele so oft erfährt, wenn sie sich erheben will?
Hipp.
[Agath. I. Th.] E
Zweytes Buch, ſechſtes Capitel.
Abweſenheit der Sonne das Unbehagliche dieſes Zu-
ſtands. Der wiederkehrende Sonnenſchein belebt, er-
muntert, erquiket meinen Koͤrper wieder, und ich be-
finde mich wol, oder doch erleichtert. Eben dieſe Wuͤr-
kung thut die Empfindung des alles beſeelenden Geiſtes
auf meine Seele; ſie erheitert, ſie beruhiget, ſie ermun-
tert mich; ſie zerſtreut meinen Unmuth, ſie belebt mei-
ne Hofnung; ſie macht, daß ich in einem Zuſtande nicht
ungluͤklich bin, der mir ohne ſie unertraͤglich waͤre.
Hippias.
Jch bin alſo gluͤklicher als du, weil ich alles dieſes
nicht noͤthig habe. Erfahrung und Nachdenken haben
mich von Vorurtheilen frey gemacht; ich genieſſe alles
was ich wuͤnſche, und wuͤnſche nichts, deſſen Genuß
nicht in meiner Gewalt iſt. Jch weiß alſo wenig von
Unmuth und Sorgen. Jch hoffe wenig, weil ich mit
dem Genuß des Gegenwaͤrtigen zu frieden bin. Jch
genieſſe mit Maͤßigung, damit ich deſto laͤnger genieſ-
ſen koͤnne, und wenn ich einen Schmerz fuͤhle, ſo lei-
de ich mit Geduld, weil dieſes das beſte Mittel iſt, ſeine
Dauer abzukuͤrzen.
Agathon.
Und worauf gruͤndeſt du deine Tugend? Womit
naͤhreſt und belebeſt du ſie? Womit uͤberwindeſt du
die Hinterniſſe, die ſie aufhalten; die Verſuchungen,
die von ihr abloken, das anſtekende der Beyſpiele, die
Unordnung der Begierden, und die Traͤgheit, welche
die Seele ſo oft erfaͤhrt, wenn ſie ſich erheben will?
Hipp.
[Agath. I. Th.] E
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[65/0087] Zweytes Buch, ſechſtes Capitel. Abweſenheit der Sonne das Unbehagliche dieſes Zu- ſtands. Der wiederkehrende Sonnenſchein belebt, er- muntert, erquiket meinen Koͤrper wieder, und ich be- finde mich wol, oder doch erleichtert. Eben dieſe Wuͤr- kung thut die Empfindung des alles beſeelenden Geiſtes auf meine Seele; ſie erheitert, ſie beruhiget, ſie ermun- tert mich; ſie zerſtreut meinen Unmuth, ſie belebt mei- ne Hofnung; ſie macht, daß ich in einem Zuſtande nicht ungluͤklich bin, der mir ohne ſie unertraͤglich waͤre. Hippias. Jch bin alſo gluͤklicher als du, weil ich alles dieſes nicht noͤthig habe. Erfahrung und Nachdenken haben mich von Vorurtheilen frey gemacht; ich genieſſe alles was ich wuͤnſche, und wuͤnſche nichts, deſſen Genuß nicht in meiner Gewalt iſt. Jch weiß alſo wenig von Unmuth und Sorgen. Jch hoffe wenig, weil ich mit dem Genuß des Gegenwaͤrtigen zu frieden bin. Jch genieſſe mit Maͤßigung, damit ich deſto laͤnger genieſ- ſen koͤnne, und wenn ich einen Schmerz fuͤhle, ſo lei- de ich mit Geduld, weil dieſes das beſte Mittel iſt, ſeine Dauer abzukuͤrzen. Agathon. Und worauf gruͤndeſt du deine Tugend? Womit naͤhreſt und belebeſt du ſie? Womit uͤberwindeſt du die Hinterniſſe, die ſie aufhalten; die Verſuchungen, die von ihr abloken, das anſtekende der Beyſpiele, die Unordnung der Begierden, und die Traͤgheit, welche die Seele ſo oft erfaͤhrt, wenn ſie ſich erheben will? Hipp. [Agath. I. Th.] E

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/87>, abgerufen am 30.04.2024.