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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834.

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ser ohne moralisches Gewissen zu Werke gehe:
dann kennt ihr den Genius des Künstlers schlecht,
wenn ihr glaubt, er arbeite gewissenlos, er fühle
nicht den warmen, lohnenden Kuß der Göttin,
wenn ihm ein Meißelschlag, ein Pinselzug unter
den Händen gelungen, oder nicht den kalten,
schneidenden Blick des Tadels, wenn ihm durch
Leichtsinn, Unvorsichtigkeit das ganze Werk oder
ein Theil desselben mißlungen ist, hat nicht jedes
Amt, jedes Handwerk, auch das gemeinste, sein
Gewissen und die göttliche Kunst sollte keins ha¬
ben, sie, die nur eine so schmale, zarte Linie hat,
worauf das Gesetz der Schönheit ihr erlaubt, den
Fuß zu setzen, sie sollte mit ihrer Gewissenhaftig¬
keit zurückstehen können, vor irgend einer andern
und nun gar vor jener plumpen und weiten der
gemeinen Moral, wie sie alltäglich im Leben aus¬
geübt wird. Haltet ihr denn auch nichts vom
Gewissen des Dichters, des Musikers, habt ihr
keine Ahnung von dem wirklichen Schmerz des
Letztern, wenn seinem Instrument ein falscher Ton
entschlüpft, wenn der Violinspieler nur eine Linie
breit auf dem Stege fehlgegriffen hat? Leider,
ich sage das zu unserer Schande, leider ist im
Gegentheil die Kunst gewissenhafter, als die Mo¬
ral, der Künstler gewissenhafter als der Mensch.
Ach, während in unsern Konzertsälen himmlische

ſer ohne moraliſches Gewiſſen zu Werke gehe:
dann kennt ihr den Genius des Kuͤnſtlers ſchlecht,
wenn ihr glaubt, er arbeite gewiſſenlos, er fuͤhle
nicht den warmen, lohnenden Kuß der Goͤttin,
wenn ihm ein Meißelſchlag, ein Pinſelzug unter
den Haͤnden gelungen, oder nicht den kalten,
ſchneidenden Blick des Tadels, wenn ihm durch
Leichtſinn, Unvorſichtigkeit das ganze Werk oder
ein Theil deſſelben mißlungen iſt, hat nicht jedes
Amt, jedes Handwerk, auch das gemeinſte, ſein
Gewiſſen und die goͤttliche Kunſt ſollte keins ha¬
ben, ſie, die nur eine ſo ſchmale, zarte Linie hat,
worauf das Geſetz der Schoͤnheit ihr erlaubt, den
Fuß zu ſetzen, ſie ſollte mit ihrer Gewiſſenhaftig¬
keit zuruͤckſtehen koͤnnen, vor irgend einer andern
und nun gar vor jener plumpen und weiten der
gemeinen Moral, wie ſie alltaͤglich im Leben aus¬
geuͤbt wird. Haltet ihr denn auch nichts vom
Gewiſſen des Dichters, des Muſikers, habt ihr
keine Ahnung von dem wirklichen Schmerz des
Letztern, wenn ſeinem Inſtrument ein falſcher Ton
entſchluͤpft, wenn der Violinſpieler nur eine Linie
breit auf dem Stege fehlgegriffen hat? Leider,
ich ſage das zu unſerer Schande, leider iſt im
Gegentheil die Kunſt gewiſſenhafter, als die Mo¬
ral, der Kuͤnſtler gewiſſenhafter als der Menſch.
Ach, waͤhrend in unſern Konzertſaͤlen himmliſche

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[171/0185] ſer ohne moraliſches Gewiſſen zu Werke gehe: dann kennt ihr den Genius des Kuͤnſtlers ſchlecht, wenn ihr glaubt, er arbeite gewiſſenlos, er fuͤhle nicht den warmen, lohnenden Kuß der Goͤttin, wenn ihm ein Meißelſchlag, ein Pinſelzug unter den Haͤnden gelungen, oder nicht den kalten, ſchneidenden Blick des Tadels, wenn ihm durch Leichtſinn, Unvorſichtigkeit das ganze Werk oder ein Theil deſſelben mißlungen iſt, hat nicht jedes Amt, jedes Handwerk, auch das gemeinſte, ſein Gewiſſen und die goͤttliche Kunſt ſollte keins ha¬ ben, ſie, die nur eine ſo ſchmale, zarte Linie hat, worauf das Geſetz der Schoͤnheit ihr erlaubt, den Fuß zu ſetzen, ſie ſollte mit ihrer Gewiſſenhaftig¬ keit zuruͤckſtehen koͤnnen, vor irgend einer andern und nun gar vor jener plumpen und weiten der gemeinen Moral, wie ſie alltaͤglich im Leben aus¬ geuͤbt wird. Haltet ihr denn auch nichts vom Gewiſſen des Dichters, des Muſikers, habt ihr keine Ahnung von dem wirklichen Schmerz des Letztern, wenn ſeinem Inſtrument ein falſcher Ton entſchluͤpft, wenn der Violinſpieler nur eine Linie breit auf dem Stege fehlgegriffen hat? Leider, ich ſage das zu unſerer Schande, leider iſt im Gegentheil die Kunſt gewiſſenhafter, als die Mo¬ ral, der Kuͤnſtler gewiſſenhafter als der Menſch. Ach, waͤhrend in unſern Konzertſaͤlen himmliſche

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Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/185>, abgerufen am 30.04.2024.