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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Grundbedeutung der gestalt. inhalt der ältesten sage.
beste commentar zur Heraklessage. sie lehrt nicht nur, dass es solche
conceptionen der volksphantasie wirklich gibt, in denen sich die tiefste
sittliche überzeugung eines volkes niederlegt: Faust ist das widerspiel
des Herakles, denn dieser verkörpert die weltanschauung, welche das
christentum ablöst mehr als überwindet, denn auch in seinem gegensatze
zeigt es seine zugehörigkeit zu der hellenischen cultur; Faustus oder sein
lehrer Simon ist in der altchristlichen sage der vertreter der hellenischen
cultur, die nur irdisches 'glück', aber ewigen tod bringt. darum hat er
Helene zur gattin, die Helene des Stesichoros.

Versuchen wir uns nun jener dorischen weltanschauung zu be-Inhalt der
ältesten
sage.

meistern, welche sich in der Heraklessage verkörpert hat, und zwar
zunächst in der abstracten form, die dem modernen verständlicher ist
als die bildlichkeit, obwol man trotz allem umformen und bessern an
den eigenen worten sicher sein kann, hier zu viel, dort zu wenig zu sagen.
denn es gibt dinge, für welche die abstracte sprache zu arm ist, wo nur
das bild genügt, wo nicht die wissenschaft reden kann, sondern nur
die poesie.

Die Heraklessage spricht zu dem dorischen manne: nur für ihn ist
sie das evangelium; sie kennt keinen menschen ausser ihm, sondern nur
knechte und bösewichter. also spricht sie. du bist gut geboren und
kannst das gute, so du nur willst. auf deiner eignen kraft stehst du,
kein gott und kein mensch nimmt dir ab, was du zu tun hast. aber
deine kraft genügt zum siege, wenn du sie gebrauchst. du willst leben:
so wirke. leben ist arbeit, unausgesetzte arbeit, nicht arbeit für dich, wie
der egoismus sie tut, noch arbeit für andere, wie der negative egoismus,
die asketische selbstaufopferung, sie tut, sondern schlechtweg zu leisten
jeden tag, was immer man kann, weil man es kann und weil es zu leisten
ist. du sollst eben tun wozu du da bist. und du bist aus göttlichem
samen entsprossen und sollst mitarbeiten das reich deines gottes auf-
zurichten und zu verteidigen. wo immer ein böser feind dieses reiches
sich zeigt, straks geh auf ihn los und schlag ihn nieder ohne zagen;
mit welchen schreckbildern er dich grauen machen, mit welchem zauber
er dich verführen will, packe kräftig zu und halte fest: wenn du dich
nicht fürchtest, wird der sieg dein sein. eitel mühe und arbeit wird
dein leben sein: aber der köstlichste lohn ist dir gewiss. du musst nur
nicht die breite heerstrasse wandeln, wie die feige masse die von der
erde stammt, an der erde klebt: den schmalen pfad musst du gehen, so
wahr du göttlichen samens bist, und dann vorwärts, aufwärts. droben
winkt dir die himmelspforte, und wenn du anpochest, dann bereiten dir

Grundbedeutung der gestalt. inhalt der ältesten sage.
beste commentar zur Heraklessage. sie lehrt nicht nur, daſs es solche
conceptionen der volksphantasie wirklich gibt, in denen sich die tiefste
sittliche überzeugung eines volkes niederlegt: Faust ist das widerspiel
des Herakles, denn dieser verkörpert die weltanschauung, welche das
christentum ablöst mehr als überwindet, denn auch in seinem gegensatze
zeigt es seine zugehörigkeit zu der hellenischen cultur; Faustus oder sein
lehrer Simon ist in der altchristlichen sage der vertreter der hellenischen
cultur, die nur irdisches ‘glück’, aber ewigen tod bringt. darum hat er
Helene zur gattin, die Helene des Stesichoros.

Versuchen wir uns nun jener dorischen weltanschauung zu be-Inhalt der
ältesten
sage.

meistern, welche sich in der Heraklessage verkörpert hat, und zwar
zunächst in der abstracten form, die dem modernen verständlicher ist
als die bildlichkeit, obwol man trotz allem umformen und bessern an
den eigenen worten sicher sein kann, hier zu viel, dort zu wenig zu sagen.
denn es gibt dinge, für welche die abstracte sprache zu arm ist, wo nur
das bild genügt, wo nicht die wissenschaft reden kann, sondern nur
die poesie.

Die Heraklessage spricht zu dem dorischen manne: nur für ihn ist
sie das evangelium; sie kennt keinen menschen auſser ihm, sondern nur
knechte und bösewichter. also spricht sie. du bist gut geboren und
kannst das gute, so du nur willst. auf deiner eignen kraft stehst du,
kein gott und kein mensch nimmt dir ab, was du zu tun hast. aber
deine kraft genügt zum siege, wenn du sie gebrauchst. du willst leben:
so wirke. leben ist arbeit, unausgesetzte arbeit, nicht arbeit für dich, wie
der egoismus sie tut, noch arbeit für andere, wie der negative egoismus,
die asketische selbstaufopferung, sie tut, sondern schlechtweg zu leisten
jeden tag, was immer man kann, weil man es kann und weil es zu leisten
ist. du sollst eben tun wozu du da bist. und du bist aus göttlichem
samen entsprossen und sollst mitarbeiten das reich deines gottes auf-
zurichten und zu verteidigen. wo immer ein böser feind dieses reiches
sich zeigt, straks geh auf ihn los und schlag ihn nieder ohne zagen;
mit welchen schreckbildern er dich grauen machen, mit welchem zauber
er dich verführen will, packe kräftig zu und halte fest: wenn du dich
nicht fürchtest, wird der sieg dein sein. eitel mühe und arbeit wird
dein leben sein: aber der köstlichste lohn ist dir gewiſs. du muſst nur
nicht die breite heerstraſse wandeln, wie die feige masse die von der
erde stammt, an der erde klebt: den schmalen pfad muſst du gehen, so
wahr du göttlichen samens bist, und dann vorwärts, aufwärts. droben
winkt dir die himmelspforte, und wenn du anpochest, dann bereiten dir

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[287/0307] Grundbedeutung der gestalt. inhalt der ältesten sage. beste commentar zur Heraklessage. sie lehrt nicht nur, daſs es solche conceptionen der volksphantasie wirklich gibt, in denen sich die tiefste sittliche überzeugung eines volkes niederlegt: Faust ist das widerspiel des Herakles, denn dieser verkörpert die weltanschauung, welche das christentum ablöst mehr als überwindet, denn auch in seinem gegensatze zeigt es seine zugehörigkeit zu der hellenischen cultur; Faustus oder sein lehrer Simon ist in der altchristlichen sage der vertreter der hellenischen cultur, die nur irdisches ‘glück’, aber ewigen tod bringt. darum hat er Helene zur gattin, die Helene des Stesichoros. Versuchen wir uns nun jener dorischen weltanschauung zu be- meistern, welche sich in der Heraklessage verkörpert hat, und zwar zunächst in der abstracten form, die dem modernen verständlicher ist als die bildlichkeit, obwol man trotz allem umformen und bessern an den eigenen worten sicher sein kann, hier zu viel, dort zu wenig zu sagen. denn es gibt dinge, für welche die abstracte sprache zu arm ist, wo nur das bild genügt, wo nicht die wissenschaft reden kann, sondern nur die poesie. Inhalt der ältesten sage. Die Heraklessage spricht zu dem dorischen manne: nur für ihn ist sie das evangelium; sie kennt keinen menschen auſser ihm, sondern nur knechte und bösewichter. also spricht sie. du bist gut geboren und kannst das gute, so du nur willst. auf deiner eignen kraft stehst du, kein gott und kein mensch nimmt dir ab, was du zu tun hast. aber deine kraft genügt zum siege, wenn du sie gebrauchst. du willst leben: so wirke. leben ist arbeit, unausgesetzte arbeit, nicht arbeit für dich, wie der egoismus sie tut, noch arbeit für andere, wie der negative egoismus, die asketische selbstaufopferung, sie tut, sondern schlechtweg zu leisten jeden tag, was immer man kann, weil man es kann und weil es zu leisten ist. du sollst eben tun wozu du da bist. und du bist aus göttlichem samen entsprossen und sollst mitarbeiten das reich deines gottes auf- zurichten und zu verteidigen. wo immer ein böser feind dieses reiches sich zeigt, straks geh auf ihn los und schlag ihn nieder ohne zagen; mit welchen schreckbildern er dich grauen machen, mit welchem zauber er dich verführen will, packe kräftig zu und halte fest: wenn du dich nicht fürchtest, wird der sieg dein sein. eitel mühe und arbeit wird dein leben sein: aber der köstlichste lohn ist dir gewiſs. du muſst nur nicht die breite heerstraſse wandeln, wie die feige masse die von der erde stammt, an der erde klebt: den schmalen pfad muſst du gehen, so wahr du göttlichen samens bist, und dann vorwärts, aufwärts. droben winkt dir die himmelspforte, und wenn du anpochest, dann bereiten dir

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/307>, abgerufen am 30.04.2024.