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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles des Euripides.
werden. denn wenn diese so mühsam in wiederholten ansätzen zu stande
gekommen wären wie Carlos und Egmont, so würden sie auch ähnliche
incongruenzen der handlung oder der stiles zeigen. es fehlt auch im
altertum nicht an solchen problemen; sie sind sogar recht zahlreich: nur
finden sie sich nicht in der poesie. die werke des Herodotos und Thu-
kydides, die beiden umfänglichsten des Platon, die meisten des Xenophon,
mehrere des Demosthenes liegen uns und lagen dem altertum immer in
einem zustande vor, welcher trotz dem mangel jeder verlässlichen sonstigen
überlieferung probleme der entstehungsgeschichte aufzuwerfen zwingt,
die nicht minder wichtig und nicht minder endlos sind als im Homer
und im Faust. und in den Wolken des Aristophanes würden wir auch
den versuch eines dramatikers, ein mislungenes werk umzuarbeiten, selbst
dann erkennen, wenn wir keine überlieferung hätten; den alten kritikern
war die aufgabe leicht gemacht, da sie beide fassungen besassen. im
übrigen pflegen wir widersprüche und stilistische fehler, wo wir sie zu
bemerken glauben, nicht den dichtern zuzuschreiben, sondern späterer
entstellung; im allgemeinen gewiss mit recht. dass Sophokles und Euri-
pides hie und da eine flüchtigkeit begehen mussten, aber kaum je durch
absetzen und wiederaufnehmen einer dichtung disharmonieen hinein-
tragen konnten, ist durch ihre ungemeine fruchtbarkeit bedingt. dürfen
wir doch rechnen, dass sie auf der höhe ihrer kraft vier stücke im jahre
fertig stellten. das schliesst nicht aus, dass der zeugungskräftige gedanke,
der aus einem sagenstoffe eine tragödie macht, längst im bewusstsein des
dichters vorhanden war, ehe dieser an die ausarbeitung schritt. aber dies
verschlägt wenig, wenn nur das werk selbst aus einem gusse ist 2). und
wenn das werk fertig war, so fand sich, wenigstens als die dichter zu
ansehn gelangt waren, sofort die vorher dem dichter wolbekannte gelegen-
heit zur aufführung, auf die er demnach in ruhe jede rücksicht nehmen
konnte, die ihm beliebte. wie die veröffentlichung des buches von statten
gieng, wissen wir nicht; aber lange kann sie nicht hinausgeschoben sein,
eben auch wegen der schnelligkeit und des reichtums der production.
dass der dichter für das buch änderungen gegenüber dem aufgeführten
texte vorgenommen hätte, ist eine möglichkeit, die man zugeben mag,
aber ausser rechnung lassen muss 3). handeln wir somit nicht unbedacht,

2) Es steht fest, dass Lessing den stoff der Emilia schon als jüngling in angriff
genommen hat; Goethe hat die Wahlverwandtschaften mehr als ein menschenalter
früher concipirt, als sie geschrieben sind: das sind für die beurteilung der dichter
sehr wertvolle tatsachen, aber für die gedichte haben sie geringe bedeutung, denn
diese sind in sich vollkommen einheitlich.
3) Die antiken erklärer haben öfter, z. b. zu den Fröschen des Aristophanes,

Der Herakles des Euripides.
werden. denn wenn diese so mühsam in wiederholten ansätzen zu stande
gekommen wären wie Carlos und Egmont, so würden sie auch ähnliche
incongruenzen der handlung oder der stiles zeigen. es fehlt auch im
altertum nicht an solchen problemen; sie sind sogar recht zahlreich: nur
finden sie sich nicht in der poesie. die werke des Herodotos und Thu-
kydides, die beiden umfänglichsten des Platon, die meisten des Xenophon,
mehrere des Demosthenes liegen uns und lagen dem altertum immer in
einem zustande vor, welcher trotz dem mangel jeder verläſslichen sonstigen
überlieferung probleme der entstehungsgeschichte aufzuwerfen zwingt,
die nicht minder wichtig und nicht minder endlos sind als im Homer
und im Faust. und in den Wolken des Aristophanes würden wir auch
den versuch eines dramatikers, ein mislungenes werk umzuarbeiten, selbst
dann erkennen, wenn wir keine überlieferung hätten; den alten kritikern
war die aufgabe leicht gemacht, da sie beide fassungen besaſsen. im
übrigen pflegen wir widersprüche und stilistische fehler, wo wir sie zu
bemerken glauben, nicht den dichtern zuzuschreiben, sondern späterer
entstellung; im allgemeinen gewiſs mit recht. daſs Sophokles und Euri-
pides hie und da eine flüchtigkeit begehen muſsten, aber kaum je durch
absetzen und wiederaufnehmen einer dichtung disharmonieen hinein-
tragen konnten, ist durch ihre ungemeine fruchtbarkeit bedingt. dürfen
wir doch rechnen, daſs sie auf der höhe ihrer kraft vier stücke im jahre
fertig stellten. das schlieſst nicht aus, daſs der zeugungskräftige gedanke,
der aus einem sagenstoffe eine tragödie macht, längst im bewuſstsein des
dichters vorhanden war, ehe dieser an die ausarbeitung schritt. aber dies
verschlägt wenig, wenn nur das werk selbst aus einem gusse ist 2). und
wenn das werk fertig war, so fand sich, wenigstens als die dichter zu
ansehn gelangt waren, sofort die vorher dem dichter wolbekannte gelegen-
heit zur aufführung, auf die er demnach in ruhe jede rücksicht nehmen
konnte, die ihm beliebte. wie die veröffentlichung des buches von statten
gieng, wissen wir nicht; aber lange kann sie nicht hinausgeschoben sein,
eben auch wegen der schnelligkeit und des reichtums der production.
daſs der dichter für das buch änderungen gegenüber dem aufgeführten
texte vorgenommen hätte, ist eine möglichkeit, die man zugeben mag,
aber auſser rechnung lassen muſs 3). handeln wir somit nicht unbedacht,

2) Es steht fest, daſs Lessing den stoff der Emilia schon als jüngling in angriff
genommen hat; Goethe hat die Wahlverwandtschaften mehr als ein menschenalter
früher concipirt, als sie geschrieben sind: das sind für die beurteilung der dichter
sehr wertvolle tatsachen, aber für die gedichte haben sie geringe bedeutung, denn
diese sind in sich vollkommen einheitlich.
3) Die antiken erklärer haben öfter, z. b. zu den Fröschen des Aristophanes,
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[342/0362] Der Herakles des Euripides. werden. denn wenn diese so mühsam in wiederholten ansätzen zu stande gekommen wären wie Carlos und Egmont, so würden sie auch ähnliche incongruenzen der handlung oder der stiles zeigen. es fehlt auch im altertum nicht an solchen problemen; sie sind sogar recht zahlreich: nur finden sie sich nicht in der poesie. die werke des Herodotos und Thu- kydides, die beiden umfänglichsten des Platon, die meisten des Xenophon, mehrere des Demosthenes liegen uns und lagen dem altertum immer in einem zustande vor, welcher trotz dem mangel jeder verläſslichen sonstigen überlieferung probleme der entstehungsgeschichte aufzuwerfen zwingt, die nicht minder wichtig und nicht minder endlos sind als im Homer und im Faust. und in den Wolken des Aristophanes würden wir auch den versuch eines dramatikers, ein mislungenes werk umzuarbeiten, selbst dann erkennen, wenn wir keine überlieferung hätten; den alten kritikern war die aufgabe leicht gemacht, da sie beide fassungen besaſsen. im übrigen pflegen wir widersprüche und stilistische fehler, wo wir sie zu bemerken glauben, nicht den dichtern zuzuschreiben, sondern späterer entstellung; im allgemeinen gewiſs mit recht. daſs Sophokles und Euri- pides hie und da eine flüchtigkeit begehen muſsten, aber kaum je durch absetzen und wiederaufnehmen einer dichtung disharmonieen hinein- tragen konnten, ist durch ihre ungemeine fruchtbarkeit bedingt. dürfen wir doch rechnen, daſs sie auf der höhe ihrer kraft vier stücke im jahre fertig stellten. das schlieſst nicht aus, daſs der zeugungskräftige gedanke, der aus einem sagenstoffe eine tragödie macht, längst im bewuſstsein des dichters vorhanden war, ehe dieser an die ausarbeitung schritt. aber dies verschlägt wenig, wenn nur das werk selbst aus einem gusse ist 2). und wenn das werk fertig war, so fand sich, wenigstens als die dichter zu ansehn gelangt waren, sofort die vorher dem dichter wolbekannte gelegen- heit zur aufführung, auf die er demnach in ruhe jede rücksicht nehmen konnte, die ihm beliebte. wie die veröffentlichung des buches von statten gieng, wissen wir nicht; aber lange kann sie nicht hinausgeschoben sein, eben auch wegen der schnelligkeit und des reichtums der production. daſs der dichter für das buch änderungen gegenüber dem aufgeführten texte vorgenommen hätte, ist eine möglichkeit, die man zugeben mag, aber auſser rechnung lassen muſs 3). handeln wir somit nicht unbedacht, 2) Es steht fest, daſs Lessing den stoff der Emilia schon als jüngling in angriff genommen hat; Goethe hat die Wahlverwandtschaften mehr als ein menschenalter früher concipirt, als sie geschrieben sind: das sind für die beurteilung der dichter sehr wertvolle tatsachen, aber für die gedichte haben sie geringe bedeutung, denn diese sind in sich vollkommen einheitlich. 3) Die antiken erklärer haben öfter, z. b. zu den Fröschen des Aristophanes,

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/362>, abgerufen am 30.04.2024.