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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Erstes Buch.
tur, et mutatur jus gentium." Quaest. Jur. Publ. II. 7. "Inter mores gen-
tium, quae nunc sunt et olim fuerunt, sollicite distinguendum est; nam mo-
ribus censetur praecipua pars juris gentium." De foro leg. praef.: "Scio ex
sola ratione aliud atque aliud placere posse; sed scio eam rationem vincere,
quam usus probavit.
Vgl. auch die Erklärung des englischen Oberrichters Lord
Stowell bei Phillimore I. 46.

2. Gefährlich und ungenau ist der Ausdruck bei Vattel Prelim. §. 26.:
Lorsqu'une coutume, un usage est generalement etabli, si elle est utile et
raisonnable, elle devient obligatoire pour toutes ces nations-la, qui sont
censees y avoir donne leur consentement; et elles sont tenues a l'observer
les unes envers les autres, tant qu'elles n'ont pas declare expressement ne
vouloir plus la suivre.
Soweit in jenen Uebungen nothwendiges Recht offen-
bar wird, dürfen sich die Staten nicht lossagen; nur so weit sie willkürlich sind,
können sie auch willkürlich beseitigt werden.

15.

Wenn die herkömmlichen Uebungen im Widerspruch sind mit den
ewigen Grundsätzen des natürlichen Menschenrechts oder von dem fortschrei-
tenden Rechtsbewußtsein der civilisirten Völker gemißbilligt werden, so sind
dieselben nicht oder nicht mehr rechtsverbindlich für die einzelnen Staten
und ist eine Verbesserung derselben nothwendig.

Die Abschaffung der Sclaverei und des Beuterechts ist überall im Gegensatz
zu den alten Uebungen der Staten durch Verbesserung der Völkersitte eingeführt
worden.

16.

Wie in den Uebungen der Völker so ist auch in den Aeußerungen
erleuchteter Statsmänner und in den Werken der Wissenschaft das Rechts-
bewußtsein der civilisirten Menschheit ausgesprochen. Insofern die Wissen-
schaft das Recht darstellt, dient sie der Klarheit des Rechts und der Ver-
breitung der Rechtskunde; in wiefern sie eine Autorität über die Menschen
übt und die Handlungen und das Verhalten der Staten bestimmt, wirkt
sie an der Fortbildung der Rechtsordnung selber mit.

Hugo Grotius I. 1. XIV. "Probatur (jus gentium) pari modo quo
jus non scriptum civile, usu perpetuo et testimonio peritorum."
Kent
(Comm. of th. Am. Law. I. p. 19.): "In cases where the principal jurists
agree, the prasumption will be very great in favour of the solidity of their
maxims."
Die Autorität der Rechtswissenschaft ist freilich nur eine Folge des
Glaubens
an ihre Erkenntniß des Rechts, das vor ihr schon da war, und
nicht wie die Autorität des Gesetzgebers eine ursprüngliche Rechtsmacht. Aber

Erſtes Buch.
tur, et mutatur jus gentium.“ Quaest. Jur. Publ. II. 7. „Inter mores gen-
tium, quae nunc sunt et olim fuerunt, sollicite distinguendum est; nam mo-
ribus censetur praecipua pars juris gentium.“ De foro leg. praef.: „Scio ex
sola ratione aliud atque aliud placere posse; sed scio eam rationem vincere,
quam usus probavit.
Vgl. auch die Erklärung des engliſchen Oberrichters Lord
Stowell bei Phillimore I. 46.

2. Gefährlich und ungenau iſt der Ausdruck bei Vattel Prélim. §. 26.:
Lorsqu’une coutume, un usage est généralement établi, si elle est utile et
raisonnable, elle devient obligatoire pour toutes ces nations-là, qui sont
censées y avoir donné leur consentement; et elles sont tenues à l’observer
les unes envers les autres, tant qu’elles n’ont pas déclaré expressément ne
vouloir plus la suivre.
Soweit in jenen Uebungen nothwendiges Recht offen-
bar wird, dürfen ſich die Staten nicht losſagen; nur ſo weit ſie willkürlich ſind,
können ſie auch willkürlich beſeitigt werden.

15.

Wenn die herkömmlichen Uebungen im Widerſpruch ſind mit den
ewigen Grundſätzen des natürlichen Menſchenrechts oder von dem fortſchrei-
tenden Rechtsbewußtſein der civiliſirten Völker gemißbilligt werden, ſo ſind
dieſelben nicht oder nicht mehr rechtsverbindlich für die einzelnen Staten
und iſt eine Verbeſſerung derſelben nothwendig.

Die Abſchaffung der Sclaverei und des Beuterechts iſt überall im Gegenſatz
zu den alten Uebungen der Staten durch Verbeſſerung der Völkerſitte eingeführt
worden.

16.

Wie in den Uebungen der Völker ſo iſt auch in den Aeußerungen
erleuchteter Statsmänner und in den Werken der Wiſſenſchaft das Rechts-
bewußtſein der civiliſirten Menſchheit ausgeſprochen. Inſofern die Wiſſen-
ſchaft das Recht darſtellt, dient ſie der Klarheit des Rechts und der Ver-
breitung der Rechtskunde; in wiefern ſie eine Autorität über die Menſchen
übt und die Handlungen und das Verhalten der Staten beſtimmt, wirkt
ſie an der Fortbildung der Rechtsordnung ſelber mit.

Hugo Grotius I. 1. XIV. „Probatur (jus gentium) pari modo quo
jus non scriptum civile, usu perpetuo et testimonio peritorum.“
Kent
(Comm. of th. Am. Law. I. p. 19.): „In cases where the principal jurists
agree, the prasumption will be very great in favour of the solidity of their
maxims.“
Die Autorität der Rechtswiſſenſchaft iſt freilich nur eine Folge des
Glaubens
an ihre Erkenntniß des Rechts, das vor ihr ſchon da war, und
nicht wie die Autorität des Geſetzgebers eine urſprüngliche Rechtsmacht. Aber

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[60/0082] Erſtes Buch. tur, et mutatur jus gentium.“ Quaest. Jur. Publ. II. 7. „Inter mores gen- tium, quae nunc sunt et olim fuerunt, sollicite distinguendum est; nam mo- ribus censetur praecipua pars juris gentium.“ De foro leg. praef.: „Scio ex sola ratione aliud atque aliud placere posse; sed scio eam rationem vincere, quam usus probavit. Vgl. auch die Erklärung des engliſchen Oberrichters Lord Stowell bei Phillimore I. 46. 2. Gefährlich und ungenau iſt der Ausdruck bei Vattel Prélim. §. 26.: Lorsqu’une coutume, un usage est généralement établi, si elle est utile et raisonnable, elle devient obligatoire pour toutes ces nations-là, qui sont censées y avoir donné leur consentement; et elles sont tenues à l’observer les unes envers les autres, tant qu’elles n’ont pas déclaré expressément ne vouloir plus la suivre. Soweit in jenen Uebungen nothwendiges Recht offen- bar wird, dürfen ſich die Staten nicht losſagen; nur ſo weit ſie willkürlich ſind, können ſie auch willkürlich beſeitigt werden. 15. Wenn die herkömmlichen Uebungen im Widerſpruch ſind mit den ewigen Grundſätzen des natürlichen Menſchenrechts oder von dem fortſchrei- tenden Rechtsbewußtſein der civiliſirten Völker gemißbilligt werden, ſo ſind dieſelben nicht oder nicht mehr rechtsverbindlich für die einzelnen Staten und iſt eine Verbeſſerung derſelben nothwendig. Die Abſchaffung der Sclaverei und des Beuterechts iſt überall im Gegenſatz zu den alten Uebungen der Staten durch Verbeſſerung der Völkerſitte eingeführt worden. 16. Wie in den Uebungen der Völker ſo iſt auch in den Aeußerungen erleuchteter Statsmänner und in den Werken der Wiſſenſchaft das Rechts- bewußtſein der civiliſirten Menſchheit ausgeſprochen. Inſofern die Wiſſen- ſchaft das Recht darſtellt, dient ſie der Klarheit des Rechts und der Ver- breitung der Rechtskunde; in wiefern ſie eine Autorität über die Menſchen übt und die Handlungen und das Verhalten der Staten beſtimmt, wirkt ſie an der Fortbildung der Rechtsordnung ſelber mit. Hugo Grotius I. 1. XIV. „Probatur (jus gentium) pari modo quo jus non scriptum civile, usu perpetuo et testimonio peritorum.“ Kent (Comm. of th. Am. Law. I. p. 19.): „In cases where the principal jurists agree, the prasumption will be very great in favour of the solidity of their maxims.“ Die Autorität der Rechtswiſſenſchaft iſt freilich nur eine Folge des Glaubens an ihre Erkenntniß des Rechts, das vor ihr ſchon da war, und nicht wie die Autorität des Geſetzgebers eine urſprüngliche Rechtsmacht. Aber

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/82>, abgerufen am 26.04.2024.