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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Das dreizehnte Jahrhundert.
nicht etwa einen Naturforscher im modernen Sinne des Wortes zu
suchen. Man würde ihn dann sicher unterschätzen. Wie er ja über-
haupt die ganze Richtung seiner Zeit nicht auf einmal durchbrechen
konnte, so darf man nicht außer Acht lassen, daß er als Geistlicher noch
besondere Rücksicht nehmen mußte, der von einem ziemlich starken Ver-
dacht umgebenen Naturbetrachtung eine mit dem Kirchenglauben ver-
einbare Form zu geben. Er darf aber auch nicht überschätzt werden.
Das enthusiastische Lob, welches ihm Blainville, Pouchet,
Sighart u. A. spenden, hat er nicht in dem Umfange und nicht für
alles Das, was ihm gerade diese Männer nachrühmen, verdient. Un-
bedingt muß er als großartige Erscheinung anerkannt werden. Sein
Hauptverdienst liegt aber wohl weniger in den ersten schüchternen Ver-
suchen eigner Beobachtungen, sondern vielmehr darin, daß er den Ari-
stoteles
als Naturphilosoph und zoologischen Lehrmeister wieder hinge-
stellt hat und daß er hierdurch darauf hingewiesen hat, wie man die
Natur ansehen soll. Daß er dann selbst diesen Lehren nicht überall ge-
folgt ist, thut ihm im Ganzen wenig Abbruch. Man pflegt zuweilen
seinen Einfluß als einen nur geringen zu bezeichnen. Wenn auch die
kürzeren und schon deshalb einer größern Verbreitung leichter zugäng-
lichen Schriften eines Thomas von Cantimpre, wie später eines Bar-
tholomäus Anglicus
directere Wirkung auf eine ziemlich lange Zeit ge-
äußert haben, so mußte doch die Thatsache, daß man nun durch seine
Arbeit in Aristoteles eine Autorität für das Naturwissen wieder besaß,
welche die sonst eine ausschließlich geistige Macht in Anspruch nehmende
Kirche doch gelten zu lassen genöthigt war, intensiv viel bedeutender
wirken. Namentlich war nun für die Zeit, wo die Wissenschaft nicht
mehr in die engen Klostermauern gebannt war, sondern sich befruchtend
über weitere Kreise verbreiten konnte, ein Halt und zwar der sicherste
Halt gegeben, an welchem sich der zu neuem Leben erwachende For-
schungseifer zur wirklich wissenschaftlichen Höhe erheben konnte. Trat
dies verhältnißmäßig spät ein, so lag die Schuld nicht an Albert oder
der Unwirksamkeit seines Planes, sondern an der Zeit, welche die
Menschheit noch nicht frei sich Bestrebungen hingeben ließ, welche ihr
Interesse in sich tragen.


Das dreizehnte Jahrhundert.
nicht etwa einen Naturforſcher im modernen Sinne des Wortes zu
ſuchen. Man würde ihn dann ſicher unterſchätzen. Wie er ja über-
haupt die ganze Richtung ſeiner Zeit nicht auf einmal durchbrechen
konnte, ſo darf man nicht außer Acht laſſen, daß er als Geiſtlicher noch
beſondere Rückſicht nehmen mußte, der von einem ziemlich ſtarken Ver-
dacht umgebenen Naturbetrachtung eine mit dem Kirchenglauben ver-
einbare Form zu geben. Er darf aber auch nicht überſchätzt werden.
Das enthuſiaſtiſche Lob, welches ihm Blainville, Pouchet,
Sighart u. A. ſpenden, hat er nicht in dem Umfange und nicht für
alles Das, was ihm gerade dieſe Männer nachrühmen, verdient. Un-
bedingt muß er als großartige Erſcheinung anerkannt werden. Sein
Hauptverdienſt liegt aber wohl weniger in den erſten ſchüchternen Ver-
ſuchen eigner Beobachtungen, ſondern vielmehr darin, daß er den Ari-
ſtoteles
als Naturphiloſoph und zoologiſchen Lehrmeiſter wieder hinge-
ſtellt hat und daß er hierdurch darauf hingewieſen hat, wie man die
Natur anſehen ſoll. Daß er dann ſelbſt dieſen Lehren nicht überall ge-
folgt iſt, thut ihm im Ganzen wenig Abbruch. Man pflegt zuweilen
ſeinen Einfluß als einen nur geringen zu bezeichnen. Wenn auch die
kürzeren und ſchon deshalb einer größern Verbreitung leichter zugäng-
lichen Schriften eines Thomas von Cantimpré, wie ſpäter eines Bar-
tholomäus Anglicus
directere Wirkung auf eine ziemlich lange Zeit ge-
äußert haben, ſo mußte doch die Thatſache, daß man nun durch ſeine
Arbeit in Ariſtoteles eine Autorität für das Naturwiſſen wieder beſaß,
welche die ſonſt eine ausſchließlich geiſtige Macht in Anſpruch nehmende
Kirche doch gelten zu laſſen genöthigt war, intenſiv viel bedeutender
wirken. Namentlich war nun für die Zeit, wo die Wiſſenſchaft nicht
mehr in die engen Kloſtermauern gebannt war, ſondern ſich befruchtend
über weitere Kreiſe verbreiten konnte, ein Halt und zwar der ſicherſte
Halt gegeben, an welchem ſich der zu neuem Leben erwachende For-
ſchungseifer zur wirklich wiſſenſchaftlichen Höhe erheben konnte. Trat
dies verhältnißmäßig ſpät ein, ſo lag die Schuld nicht an Albert oder
der Unwirkſamkeit ſeines Planes, ſondern an der Zeit, welche die
Menſchheit noch nicht frei ſich Beſtrebungen hingeben ließ, welche ihr
Intereſſe in ſich tragen.


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[237/0248] Das dreizehnte Jahrhundert. nicht etwa einen Naturforſcher im modernen Sinne des Wortes zu ſuchen. Man würde ihn dann ſicher unterſchätzen. Wie er ja über- haupt die ganze Richtung ſeiner Zeit nicht auf einmal durchbrechen konnte, ſo darf man nicht außer Acht laſſen, daß er als Geiſtlicher noch beſondere Rückſicht nehmen mußte, der von einem ziemlich ſtarken Ver- dacht umgebenen Naturbetrachtung eine mit dem Kirchenglauben ver- einbare Form zu geben. Er darf aber auch nicht überſchätzt werden. Das enthuſiaſtiſche Lob, welches ihm Blainville, Pouchet, Sighart u. A. ſpenden, hat er nicht in dem Umfange und nicht für alles Das, was ihm gerade dieſe Männer nachrühmen, verdient. Un- bedingt muß er als großartige Erſcheinung anerkannt werden. Sein Hauptverdienſt liegt aber wohl weniger in den erſten ſchüchternen Ver- ſuchen eigner Beobachtungen, ſondern vielmehr darin, daß er den Ari- ſtoteles als Naturphiloſoph und zoologiſchen Lehrmeiſter wieder hinge- ſtellt hat und daß er hierdurch darauf hingewieſen hat, wie man die Natur anſehen ſoll. Daß er dann ſelbſt dieſen Lehren nicht überall ge- folgt iſt, thut ihm im Ganzen wenig Abbruch. Man pflegt zuweilen ſeinen Einfluß als einen nur geringen zu bezeichnen. Wenn auch die kürzeren und ſchon deshalb einer größern Verbreitung leichter zugäng- lichen Schriften eines Thomas von Cantimpré, wie ſpäter eines Bar- tholomäus Anglicus directere Wirkung auf eine ziemlich lange Zeit ge- äußert haben, ſo mußte doch die Thatſache, daß man nun durch ſeine Arbeit in Ariſtoteles eine Autorität für das Naturwiſſen wieder beſaß, welche die ſonſt eine ausſchließlich geiſtige Macht in Anſpruch nehmende Kirche doch gelten zu laſſen genöthigt war, intenſiv viel bedeutender wirken. Namentlich war nun für die Zeit, wo die Wiſſenſchaft nicht mehr in die engen Kloſtermauern gebannt war, ſondern ſich befruchtend über weitere Kreiſe verbreiten konnte, ein Halt und zwar der ſicherſte Halt gegeben, an welchem ſich der zu neuem Leben erwachende For- ſchungseifer zur wirklich wiſſenſchaftlichen Höhe erheben konnte. Trat dies verhältnißmäßig ſpät ein, ſo lag die Schuld nicht an Albert oder der Unwirkſamkeit ſeines Planes, ſondern an der Zeit, welche die Menſchheit noch nicht frei ſich Beſtrebungen hingeben ließ, welche ihr Intereſſe in ſich tragen.

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/248>, abgerufen am 26.04.2024.