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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
Viertes Kapitel.
Zeitalter der Sophisten und des Socrates.
Die Methode der Feststellung des Erkenntnißgrundes wird eingeführt.

Seit etwa der Mitte des fünften Jahrhunderts vor Christus
fand eine intellektuelle Umwälzung in Griechenland statt, welche
die Geister so tief bewegte, wie keine Veränderung der Ideen seit
dem Vorgang der Entstehung der Wissenschaft selber.

Mit jedem neuen metaphysischen Entwurf war der skeptische
Geist gewachsen und machte sich nun mit souveränem Bewußtsein
geltend. Die sozialen und politischen Veränderungen verstärkten
das Gefühl der Independenz in den Individuen. Sie bewirkten
einen Wechsel in der Richtung der Interessen, durch welchen die
Technik der mit dem Staatsleben zusammenhängenden Thätigkeit
innerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit in den Vordergrund trat.
Sie riefen eine glänzende, die Aufmerksamkeit von ganz Griechen-
land wie durch Zauber auf sich ziehende Berufsklasse in das Leben,
die Sophisten, welche dem neu entstandenen Bedürfniß durch
einen höheren Unterricht für die politischen Geschäfte entsprachen.
Die geistige Welt begann den Griechen neben der Natur aufzu-
gehen.

Im Beginn dieser Erschütterung aller wissenschaftlichen Be-
griffe sprach Protagoras, der leitende Kopf dieser neuen Berufs-
klasse vor Gorgias, die Formel der Zeit aus. Der Relativismus,
welchem diese Formel Ausdruck gab, enthielt den ersten Ansatz
einer Erkenntnißtheorie.

Der Mensch ist "das Maß aller Dinge, der seienden, wie
sie sind, der nichtseienden, wie sie nicht sind"; so lautete es in dem
berühmten Anfang seiner philosophischen Hauptschrift. Was einem
jeden erscheint, ist auch für ihn. -- Aber diese Sätze des Pro-
togoras müssen in Bezug auf die Grenzen genau aufgefaßt werden,
in denen sie mit Sicherheit aus den dürftigen Resten nachgewiesen
werden können. Sie sind nicht der Ausdruck einer allgemeinen
Theorie des Bewußtseins, welcher jede in demselben gegebene

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Viertes Kapitel.
Zeitalter der Sophiſten und des Socrates.
Die Methode der Feſtſtellung des Erkenntnißgrundes wird eingeführt.

Seit etwa der Mitte des fünften Jahrhunderts vor Chriſtus
fand eine intellektuelle Umwälzung in Griechenland ſtatt, welche
die Geiſter ſo tief bewegte, wie keine Veränderung der Ideen ſeit
dem Vorgang der Entſtehung der Wiſſenſchaft ſelber.

Mit jedem neuen metaphyſiſchen Entwurf war der ſkeptiſche
Geiſt gewachſen und machte ſich nun mit ſouveränem Bewußtſein
geltend. Die ſozialen und politiſchen Veränderungen verſtärkten
das Gefühl der Independenz in den Individuen. Sie bewirkten
einen Wechſel in der Richtung der Intereſſen, durch welchen die
Technik der mit dem Staatsleben zuſammenhängenden Thätigkeit
innerhalb der geſellſchaftlichen Wirklichkeit in den Vordergrund trat.
Sie riefen eine glänzende, die Aufmerkſamkeit von ganz Griechen-
land wie durch Zauber auf ſich ziehende Berufsklaſſe in das Leben,
die Sophiſten, welche dem neu entſtandenen Bedürfniß durch
einen höheren Unterricht für die politiſchen Geſchäfte entſprachen.
Die geiſtige Welt begann den Griechen neben der Natur aufzu-
gehen.

Im Beginn dieſer Erſchütterung aller wiſſenſchaftlichen Be-
griffe ſprach Protagoras, der leitende Kopf dieſer neuen Berufs-
klaſſe vor Gorgias, die Formel der Zeit aus. Der Relativismus,
welchem dieſe Formel Ausdruck gab, enthielt den erſten Anſatz
einer Erkenntnißtheorie.

Der Menſch iſt „das Maß aller Dinge, der ſeienden, wie
ſie ſind, der nichtſeienden, wie ſie nicht ſind“; ſo lautete es in dem
berühmten Anfang ſeiner philoſophiſchen Hauptſchrift. Was einem
jeden erſcheint, iſt auch für ihn. — Aber dieſe Sätze des Pro-
togoras müſſen in Bezug auf die Grenzen genau aufgefaßt werden,
in denen ſie mit Sicherheit aus den dürftigen Reſten nachgewieſen
werden können. Sie ſind nicht der Ausdruck einer allgemeinen
Theorie des Bewußtſeins, welcher jede in demſelben gegebene

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[218/0241] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Viertes Kapitel. Zeitalter der Sophiſten und des Socrates. Die Methode der Feſtſtellung des Erkenntnißgrundes wird eingeführt. Seit etwa der Mitte des fünften Jahrhunderts vor Chriſtus fand eine intellektuelle Umwälzung in Griechenland ſtatt, welche die Geiſter ſo tief bewegte, wie keine Veränderung der Ideen ſeit dem Vorgang der Entſtehung der Wiſſenſchaft ſelber. Mit jedem neuen metaphyſiſchen Entwurf war der ſkeptiſche Geiſt gewachſen und machte ſich nun mit ſouveränem Bewußtſein geltend. Die ſozialen und politiſchen Veränderungen verſtärkten das Gefühl der Independenz in den Individuen. Sie bewirkten einen Wechſel in der Richtung der Intereſſen, durch welchen die Technik der mit dem Staatsleben zuſammenhängenden Thätigkeit innerhalb der geſellſchaftlichen Wirklichkeit in den Vordergrund trat. Sie riefen eine glänzende, die Aufmerkſamkeit von ganz Griechen- land wie durch Zauber auf ſich ziehende Berufsklaſſe in das Leben, die Sophiſten, welche dem neu entſtandenen Bedürfniß durch einen höheren Unterricht für die politiſchen Geſchäfte entſprachen. Die geiſtige Welt begann den Griechen neben der Natur aufzu- gehen. Im Beginn dieſer Erſchütterung aller wiſſenſchaftlichen Be- griffe ſprach Protagoras, der leitende Kopf dieſer neuen Berufs- klaſſe vor Gorgias, die Formel der Zeit aus. Der Relativismus, welchem dieſe Formel Ausdruck gab, enthielt den erſten Anſatz einer Erkenntnißtheorie. Der Menſch iſt „das Maß aller Dinge, der ſeienden, wie ſie ſind, der nichtſeienden, wie ſie nicht ſind“; ſo lautete es in dem berühmten Anfang ſeiner philoſophiſchen Hauptſchrift. Was einem jeden erſcheint, iſt auch für ihn. — Aber dieſe Sätze des Pro- togoras müſſen in Bezug auf die Grenzen genau aufgefaßt werden, in denen ſie mit Sicherheit aus den dürftigen Reſten nachgewieſen werden können. Sie ſind nicht der Ausdruck einer allgemeinen Theorie des Bewußtſeins, welcher jede in demſelben gegebene

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/241>, abgerufen am 26.04.2024.