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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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Talente Tugend werden müssen oder nichts sind und
schauderte vor der Lügenhaftigkeit ihres ganzen We¬
sens. Friedrich's Verachtung war ihr durchaus un¬
erträglich, obgleich sie sonst die Männer verachtete.
Da raffte sie sich innerlichst zusammen, zerriß alle
ihre alten Verbindungen und begrub sich in die Ein¬
samkeit ihres Schlosses. Daher ihr plötzliches Ver¬
schwinden aus der Residenz.

Sie mochte sich nicht Stückweis bessern, ein
ganz neues Leben der Wahrheit wollte sie anfan¬
gen. Vor allem bestrebte sie sich mit ehrlichem Ei¬
fer, den schönen verwilderten Knaben, den wir dort
kennen gelernt, zu Gott zurückzuführen, und er
übertraf mit seiner Kraft eines unabgenüzten Ge¬
müthes gar bald seine Lehrerin. Sie knüpfte Be¬
kanntschaften an mit einigen häuslichen Frauen der
Nachbarschaft, die sie sonst unsäglich verachtet, und
mußte beschämt vor mancher Trefflichkeit stehen, von
der sie sich ehedem nichts träumen ließ. Die Fen¬
ster und Thüren ihres Schlosses, die sonst Tag und
Nacht offen standen, wurden nun geschlossen, sie
wirkte still und fleissig nach allen Seiten und führte
eine strenge Hauszucht. Friedrich sollte Ihrentwe¬
gen von alle dem nichts wissen, das war ihr, wie
sie meynte, einerley. --

Es war ihr redlicher Ernst, anders zu werden,
und noch nie hatte sich ihre Seele so reintriumphie¬
rend und frey gefühlt, als in dieser Zeit. Aber es
war auch nur ein Rausch, obgleich der schönste in

19 *

Talente Tugend werden müſſen oder nichts ſind und
ſchauderte vor der Lügenhaftigkeit ihres ganzen We¬
ſens. Friedrich's Verachtung war ihr durchaus un¬
erträglich, obgleich ſie ſonſt die Männer verachtete.
Da raffte ſie ſich innerlichſt zuſammen, zerriß alle
ihre alten Verbindungen und begrub ſich in die Ein¬
ſamkeit ihres Schloſſes. Daher ihr plötzliches Ver¬
ſchwinden aus der Reſidenz.

Sie mochte ſich nicht Stückweis beſſern, ein
ganz neues Leben der Wahrheit wollte ſie anfan¬
gen. Vor allem beſtrebte ſie ſich mit ehrlichem Ei¬
fer, den ſchönen verwilderten Knaben, den wir dort
kennen gelernt, zu Gott zurückzuführen, und er
übertraf mit ſeiner Kraft eines unabgenüzten Ge¬
müthes gar bald ſeine Lehrerin. Sie knüpfte Be¬
kanntſchaften an mit einigen häuslichen Frauen der
Nachbarſchaft, die ſie ſonſt unſäglich verachtet, und
mußte beſchämt vor mancher Trefflichkeit ſtehen, von
der ſie ſich ehedem nichts träumen ließ. Die Fen¬
ſter und Thüren ihres Schloſſes, die ſonſt Tag und
Nacht offen ſtanden, wurden nun geſchloſſen, ſie
wirkte ſtill und fleiſſig nach allen Seiten und führte
eine ſtrenge Hauszucht. Friedrich ſollte Ihrentwe¬
gen von alle dem nichts wiſſen, das war ihr, wie
ſie meynte, einerley. —

Es war ihr redlicher Ernſt, anders zu werden,
und noch nie hatte ſich ihre Seele ſo reintriumphie¬
rend und frey gefühlt, als in dieſer Zeit. Aber es
war auch nur ein Rauſch, obgleich der ſchönſte in

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[291/0297] Talente Tugend werden müſſen oder nichts ſind und ſchauderte vor der Lügenhaftigkeit ihres ganzen We¬ ſens. Friedrich's Verachtung war ihr durchaus un¬ erträglich, obgleich ſie ſonſt die Männer verachtete. Da raffte ſie ſich innerlichſt zuſammen, zerriß alle ihre alten Verbindungen und begrub ſich in die Ein¬ ſamkeit ihres Schloſſes. Daher ihr plötzliches Ver¬ ſchwinden aus der Reſidenz. Sie mochte ſich nicht Stückweis beſſern, ein ganz neues Leben der Wahrheit wollte ſie anfan¬ gen. Vor allem beſtrebte ſie ſich mit ehrlichem Ei¬ fer, den ſchönen verwilderten Knaben, den wir dort kennen gelernt, zu Gott zurückzuführen, und er übertraf mit ſeiner Kraft eines unabgenüzten Ge¬ müthes gar bald ſeine Lehrerin. Sie knüpfte Be¬ kanntſchaften an mit einigen häuslichen Frauen der Nachbarſchaft, die ſie ſonſt unſäglich verachtet, und mußte beſchämt vor mancher Trefflichkeit ſtehen, von der ſie ſich ehedem nichts träumen ließ. Die Fen¬ ſter und Thüren ihres Schloſſes, die ſonſt Tag und Nacht offen ſtanden, wurden nun geſchloſſen, ſie wirkte ſtill und fleiſſig nach allen Seiten und führte eine ſtrenge Hauszucht. Friedrich ſollte Ihrentwe¬ gen von alle dem nichts wiſſen, das war ihr, wie ſie meynte, einerley. — Es war ihr redlicher Ernſt, anders zu werden, und noch nie hatte ſich ihre Seele ſo reintriumphie¬ rend und frey gefühlt, als in dieſer Zeit. Aber es war auch nur ein Rauſch, obgleich der ſchönſte in 19 *

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/297>, abgerufen am 26.04.2024.