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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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pranaturalistischen Sinne existiren nur im Herzen. Das
Herz ist selbst die Existenz Gottes, die Existenz der
Unsterblichkeit
. Begnügt euch mit dieser Existenz! Ihr
versteht euer Herz nicht -- das ist das Uebel. Ihr wollt
eine factische, eine äußere, eine objective Unsterblichkeit, einen
Gott außer euch. O welche Täuschung! --

Aber wie das Herz den Menschen von den Schranken
und zwar wesenhaften Schranken der Natur erlöst; so erlöst
dagegen die Vernunft die Natur von den Schranken der
äußerlichen Endlichkeit. Wohl ist die Natur das Licht und Maaß
der Vernunft -- dieß gilt gegen den naturlosen Idealismus.
Nur was natürlich wahr, ist auch logisch wahr. Was
keinen Grund in der Natur, hat gar keinen Grund. Was
kein physikalisches, ist auch kein metaphysisches Gesetz. Jedes
wahres Gesetz der Metaphysik läßt sich und muß sich physika-
lisch bewähren lassen. Aber zugleich ist auch die Vernunft
das Licht der Natur -- dieß gilt gegen den geist- und ver-
nunftlosen Materialismus. Die Vernunft ist die zu sich selbst
gekommene, in integrum sich restituirende Natur der
Dinge
. Die Vernunft reducirt die Dinge aus den Entstel-
lungen und Veränderungen, die sie im Drange der Außen-
welt erlitten, auf ihr wahres Wesen zurück. Die meisten, ja
fast alle Krystalle -- um in die Augen fallende Beweise zu ge-
ben -- kommen in der Natur in noch ganz andern Gestalten
vor, als in ihrer Grundgestalt; ja viele Krystalle kommen nie
in ihrer Grundgestalt zum Vorschein. Indeß die Vernunft
der Mineralogie hat die Grundform ausgemittelt. Es ist
daher nichts thörichter, als die Natur der Vernunft als ein
ihr an sich unbegreifliches Wesen entgegenzusetzen. Wenn
die Vernunft die veränderten und verunstalteten Formen auf
die primitive Grundform zurückführt, thut sie nicht, was die
Natur selbst im Sinne hatte, aber nur in Folge äußerer Hin-
dernisse nicht ausführen konnte? Was thut sie also anders
als daß sie die äußern Störungen, Einflüsse und Hemmungen
beseitigt, um ein Ding so darzustellen, wie es sein soll, das

pranaturaliſtiſchen Sinne exiſtiren nur im Herzen. Das
Herz iſt ſelbſt die Exiſtenz Gottes, die Exiſtenz der
Unſterblichkeit
. Begnügt euch mit dieſer Exiſtenz! Ihr
verſteht euer Herz nicht — das iſt das Uebel. Ihr wollt
eine factiſche, eine äußere, eine objective Unſterblichkeit, einen
Gott außer euch. O welche Täuſchung! —

Aber wie das Herz den Menſchen von den Schranken
und zwar weſenhaften Schranken der Natur erlöſt; ſo erlöſt
dagegen die Vernunft die Natur von den Schranken der
äußerlichen Endlichkeit. Wohl iſt die Natur das Licht und Maaß
der Vernunft — dieß gilt gegen den naturloſen Idealismus.
Nur was natürlich wahr, iſt auch logiſch wahr. Was
keinen Grund in der Natur, hat gar keinen Grund. Was
kein phyſikaliſches, iſt auch kein metaphyſiſches Geſetz. Jedes
wahres Geſetz der Metaphyſik läßt ſich und muß ſich phyſika-
liſch bewähren laſſen. Aber zugleich iſt auch die Vernunft
das Licht der Natur — dieß gilt gegen den geiſt- und ver-
nunftloſen Materialismus. Die Vernunft iſt die zu ſich ſelbſt
gekommene, in integrum ſich reſtituirende Natur der
Dinge
. Die Vernunft reducirt die Dinge aus den Entſtel-
lungen und Veränderungen, die ſie im Drange der Außen-
welt erlitten, auf ihr wahres Weſen zurück. Die meiſten, ja
faſt alle Kryſtalle — um in die Augen fallende Beweiſe zu ge-
ben — kommen in der Natur in noch ganz andern Geſtalten
vor, als in ihrer Grundgeſtalt; ja viele Kryſtalle kommen nie
in ihrer Grundgeſtalt zum Vorſchein. Indeß die Vernunft
der Mineralogie hat die Grundform ausgemittelt. Es iſt
daher nichts thörichter, als die Natur der Vernunft als ein
ihr an ſich unbegreifliches Weſen entgegenzuſetzen. Wenn
die Vernunft die veränderten und verunſtalteten Formen auf
die primitive Grundform zurückführt, thut ſie nicht, was die
Natur ſelbſt im Sinne hatte, aber nur in Folge äußerer Hin-
derniſſe nicht ausführen konnte? Was thut ſie alſo anders
als daß ſie die äußern Störungen, Einflüſſe und Hemmungen
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[383/0401] pranaturaliſtiſchen Sinne exiſtiren nur im Herzen. Das Herz iſt ſelbſt die Exiſtenz Gottes, die Exiſtenz der Unſterblichkeit. Begnügt euch mit dieſer Exiſtenz! Ihr verſteht euer Herz nicht — das iſt das Uebel. Ihr wollt eine factiſche, eine äußere, eine objective Unſterblichkeit, einen Gott außer euch. O welche Täuſchung! — Aber wie das Herz den Menſchen von den Schranken und zwar weſenhaften Schranken der Natur erlöſt; ſo erlöſt dagegen die Vernunft die Natur von den Schranken der äußerlichen Endlichkeit. Wohl iſt die Natur das Licht und Maaß der Vernunft — dieß gilt gegen den naturloſen Idealismus. Nur was natürlich wahr, iſt auch logiſch wahr. Was keinen Grund in der Natur, hat gar keinen Grund. Was kein phyſikaliſches, iſt auch kein metaphyſiſches Geſetz. Jedes wahres Geſetz der Metaphyſik läßt ſich und muß ſich phyſika- liſch bewähren laſſen. Aber zugleich iſt auch die Vernunft das Licht der Natur — dieß gilt gegen den geiſt- und ver- nunftloſen Materialismus. Die Vernunft iſt die zu ſich ſelbſt gekommene, in integrum ſich reſtituirende Natur der Dinge. Die Vernunft reducirt die Dinge aus den Entſtel- lungen und Veränderungen, die ſie im Drange der Außen- welt erlitten, auf ihr wahres Weſen zurück. Die meiſten, ja faſt alle Kryſtalle — um in die Augen fallende Beweiſe zu ge- ben — kommen in der Natur in noch ganz andern Geſtalten vor, als in ihrer Grundgeſtalt; ja viele Kryſtalle kommen nie in ihrer Grundgeſtalt zum Vorſchein. Indeß die Vernunft der Mineralogie hat die Grundform ausgemittelt. Es iſt daher nichts thörichter, als die Natur der Vernunft als ein ihr an ſich unbegreifliches Weſen entgegenzuſetzen. Wenn die Vernunft die veränderten und verunſtalteten Formen auf die primitive Grundform zurückführt, thut ſie nicht, was die Natur ſelbſt im Sinne hatte, aber nur in Folge äußerer Hin- derniſſe nicht ausführen konnte? Was thut ſie alſo anders als daß ſie die äußern Störungen, Einflüſſe und Hemmungen beſeitigt, um ein Ding ſo darzuſtellen, wie es ſein ſoll, das

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/401>, abgerufen am 27.04.2024.