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Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807.

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dort vor uralten Zeiten als ein kleines Bächlein nieder-
rann; das dann durch Asiens weite Felder immer mehr
westwärts sich ergoß, und durch manche Jahrtausende
hindurch, und wie es immer weiter drang durch Raum
und Zeit bis hin zu uns immer mehr anschwoll; aus
dem ganze Generationen und viele Nationen getrunken
haben, und das mit dem großen Völkerzuge nach
Europa übergieng, und nun auch in unserer Zeit und
unserer Generation ein so bedeutendes Publicum sich
verschaffte, daß es in Rücksicht auf Celebrität und
die Größe seines Wirkungskreises die heiligen Bücher
erreicht, und alle Classischen übertrifft. Man kennt
den Inhalt dieses Buches. Der Kaiser Pontianus über-
giebt seinen Sohn den Meistern, damit sie ihn in den
freyen Künsten unterweisen; sie nehmen ihn mit sich
nach Athen und besorgen seine Bildung. Der Jüng-
ling wird weise und in Künsten erfahren; nach sieben
Jahren ruft der Kaiser ihn an den Hof zurück, und er
ließt in den Sternen, wie dort eine große Gefahr seiner
warte, die er dadurch nur abwenden möge, daß er
während sieben Tagen unverbrüchliches Stillschweigen
bewahre. Er kehrt nun zu seinem Vater zurück, begleitet
von seinen Meistern. Der Kaiser erstaunt Anfangs,
und wird dann höchlich entrüstet über seine unerklärbare
Stummheit. Die Kaiserinn, seine Stiefmutter, verliebt

dort vor uralten Zeiten als ein kleines Bächlein nieder-
rann; das dann durch Aſiens weite Felder immer mehr
weſtwärts ſich ergoß, und durch manche Jahrtauſende
hindurch, und wie es immer weiter drang durch Raum
und Zeit bis hin zu uns immer mehr anſchwoll; aus
dem ganze Generationen und viele Nationen getrunken
haben, und das mit dem großen Völkerzuge nach
Europa übergieng, und nun auch in unſerer Zeit und
unſerer Generation ein ſo bedeutendes Publicum ſich
verſchaffte, daß es in Rückſicht auf Celebrität und
die Größe ſeines Wirkungskreiſes die heiligen Bücher
erreicht, und alle Claſſiſchen übertrifft. Man kennt
den Inhalt dieſes Buches. Der Kaiſer Pontianus über-
giebt ſeinen Sohn den Meiſtern, damit ſie ihn in den
freyen Künſten unterweiſen; ſie nehmen ihn mit ſich
nach Athen und beſorgen ſeine Bildung. Der Jüng-
ling wird weiſe und in Künſten erfahren; nach ſieben
Jahren ruft der Kaiſer ihn an den Hof zurück, und er
ließt in den Sternen, wie dort eine große Gefahr ſeiner
warte, die er dadurch nur abwenden möge, daß er
während ſieben Tagen unverbrüchliches Stillſchweigen
bewahre. Er kehrt nun zu ſeinem Vater zurück, begleitet
von ſeinen Meiſtern. Der Kaiſer erſtaunt Anfangs,
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Stummheit. Die Kaiſerinn, ſeine Stiefmutter, verliebt

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[155/0173] dort vor uralten Zeiten als ein kleines Bächlein nieder- rann; das dann durch Aſiens weite Felder immer mehr weſtwärts ſich ergoß, und durch manche Jahrtauſende hindurch, und wie es immer weiter drang durch Raum und Zeit bis hin zu uns immer mehr anſchwoll; aus dem ganze Generationen und viele Nationen getrunken haben, und das mit dem großen Völkerzuge nach Europa übergieng, und nun auch in unſerer Zeit und unſerer Generation ein ſo bedeutendes Publicum ſich verſchaffte, daß es in Rückſicht auf Celebrität und die Größe ſeines Wirkungskreiſes die heiligen Bücher erreicht, und alle Claſſiſchen übertrifft. Man kennt den Inhalt dieſes Buches. Der Kaiſer Pontianus über- giebt ſeinen Sohn den Meiſtern, damit ſie ihn in den freyen Künſten unterweiſen; ſie nehmen ihn mit ſich nach Athen und beſorgen ſeine Bildung. Der Jüng- ling wird weiſe und in Künſten erfahren; nach ſieben Jahren ruft der Kaiſer ihn an den Hof zurück, und er ließt in den Sternen, wie dort eine große Gefahr ſeiner warte, die er dadurch nur abwenden möge, daß er während ſieben Tagen unverbrüchliches Stillſchweigen bewahre. Er kehrt nun zu ſeinem Vater zurück, begleitet von ſeinen Meiſtern. Der Kaiſer erſtaunt Anfangs, und wird dann höchlich entrüſtet über ſeine unerklärbare Stummheit. Die Kaiſerinn, ſeine Stiefmutter, verliebt

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Zitationshilfe: Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/173>, abgerufen am 26.04.2024.