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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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die Erscheinung einigermaßen täuschen soll; so muß das
Rothe ein Zinnoberroth, und das Blaue sehr dunkelblau
seyn. Nimmt man Hellblau, so wird man die Täu-
schung gleich gewahr. Und warum ist denn Niemanden
eingefallen, noch eine andre verfängliche Frage zu thun?
Nach der Newtonischen Lehre ist das Gelbroth am we-
nigsten refrangibel, das Blauroth am meisten; warum
nimmt er denn also nicht ein violettes Papier neben
das rothe, sondern ein dunkelblaues? Wäre die Sache
wahr, so müßte die Verschiedenheit der Refrangibilität
bey Gelbroth und Violett weit stärker seyn, als bey
Gelbroth und Blau. Allein hier findet sich der Um-
stand, daß ein violettes Papier die prismatischen Rän-
der weniger versteckt, als ein dunkelblaues; wovon sich
jeder Beobachter nunmehr, nach unsrer umständlichen
Anleitung, leicht überzeugen kann. Wie es dagegen um
die Newtonische Beobachtungsgabe und um die Ge-
nauigkeit seiner Experimente stehe, wird jeder, der Au-
gen und Sinn hat, mit Verwunderung gewahr wer-
den; ja man darf dreist sagen, wer hätte einen Mann
von so außerordentlichen Gaben, wie Newton war,
durch ein solches Hocus pocus betrügen können, wenn
er sich nicht selbst betrogen hätte? Nur derjenige, der
die Gewalt des Selbstbetruges kennt, und weiß, daß
er ganz nahe an die Unredlichkeit gränzt, wird allein
das Verfahren Newtons und seiner Schule sich erklären
können.

46.

Wir wollen nur noch mit wenigem auf die New-

die Erſcheinung einigermaßen taͤuſchen ſoll; ſo muß das
Rothe ein Zinnoberroth, und das Blaue ſehr dunkelblau
ſeyn. Nimmt man Hellblau, ſo wird man die Taͤu-
ſchung gleich gewahr. Und warum iſt denn Niemanden
eingefallen, noch eine andre verfaͤngliche Frage zu thun?
Nach der Newtoniſchen Lehre iſt das Gelbroth am we-
nigſten refrangibel, das Blauroth am meiſten; warum
nimmt er denn alſo nicht ein violettes Papier neben
das rothe, ſondern ein dunkelblaues? Waͤre die Sache
wahr, ſo muͤßte die Verſchiedenheit der Refrangibilitaͤt
bey Gelbroth und Violett weit ſtaͤrker ſeyn, als bey
Gelbroth und Blau. Allein hier findet ſich der Um-
ſtand, daß ein violettes Papier die prismatiſchen Raͤn-
der weniger verſteckt, als ein dunkelblaues; wovon ſich
jeder Beobachter nunmehr, nach unſrer umſtaͤndlichen
Anleitung, leicht uͤberzeugen kann. Wie es dagegen um
die Newtoniſche Beobachtungsgabe und um die Ge-
nauigkeit ſeiner Experimente ſtehe, wird jeder, der Au-
gen und Sinn hat, mit Verwunderung gewahr wer-
den; ja man darf dreiſt ſagen, wer haͤtte einen Mann
von ſo außerordentlichen Gaben, wie Newton war,
durch ein ſolches Hocus pocus betruͤgen koͤnnen, wenn
er ſich nicht ſelbſt betrogen haͤtte? Nur derjenige, der
die Gewalt des Selbſtbetruges kennt, und weiß, daß
er ganz nahe an die Unredlichkeit graͤnzt, wird allein
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koͤnnen.

46.

Wir wollen nur noch mit wenigem auf die New-

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[382/0436] die Erſcheinung einigermaßen taͤuſchen ſoll; ſo muß das Rothe ein Zinnoberroth, und das Blaue ſehr dunkelblau ſeyn. Nimmt man Hellblau, ſo wird man die Taͤu- ſchung gleich gewahr. Und warum iſt denn Niemanden eingefallen, noch eine andre verfaͤngliche Frage zu thun? Nach der Newtoniſchen Lehre iſt das Gelbroth am we- nigſten refrangibel, das Blauroth am meiſten; warum nimmt er denn alſo nicht ein violettes Papier neben das rothe, ſondern ein dunkelblaues? Waͤre die Sache wahr, ſo muͤßte die Verſchiedenheit der Refrangibilitaͤt bey Gelbroth und Violett weit ſtaͤrker ſeyn, als bey Gelbroth und Blau. Allein hier findet ſich der Um- ſtand, daß ein violettes Papier die prismatiſchen Raͤn- der weniger verſteckt, als ein dunkelblaues; wovon ſich jeder Beobachter nunmehr, nach unſrer umſtaͤndlichen Anleitung, leicht uͤberzeugen kann. Wie es dagegen um die Newtoniſche Beobachtungsgabe und um die Ge- nauigkeit ſeiner Experimente ſtehe, wird jeder, der Au- gen und Sinn hat, mit Verwunderung gewahr wer- den; ja man darf dreiſt ſagen, wer haͤtte einen Mann von ſo außerordentlichen Gaben, wie Newton war, durch ein ſolches Hocus pocus betruͤgen koͤnnen, wenn er ſich nicht ſelbſt betrogen haͤtte? Nur derjenige, der die Gewalt des Selbſtbetruges kennt, und weiß, daß er ganz nahe an die Unredlichkeit graͤnzt, wird allein das Verfahren Newtons und ſeiner Schule ſich erklaͤren koͤnnen. 46. Wir wollen nur noch mit wenigem auf die New-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/436>, abgerufen am 26.04.2024.