Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



ehren dich! Du machst oft ihre Freude, und dei-
nem Herzen scheint's, als wenn es ohne sie nicht
seyn könnte, und doch -- wenn du nun giengst?
wenn du aus diesem Kreise schiedest, würden sie?
wie lange würden sie die Lükke fühlen, die dein
Verlust in ihr Schiksal reißt? wie lang? --
O so vergänglich ist der Mensch, daß er auch da,
wo er seines Daseyns eigentliche Gewißheit hat,
da, wo er den einzigen wahren Eindruk seiner Ge-
genwart macht; in dem Andenken in der Seele
seiner Lieben, daß er auch da verlöschen, verschwin-
den muß, und das -- so bald!




Jch möchte mir oft die Brust zerreissen und das
Gehirn einstoßen, daß man einander so we-
nig seyn kann. Ach die Liebe und Freude und
Wärme und Wonne, die ich nicht hinzu bringe,
wird mir der andre nicht geben, und mit einem
ganzen Herzen voll Seligkeit, werd ich den andern
nicht beglükken der kalt und kraftlos vor mir steht.

am



ehren dich! Du machſt oft ihre Freude, und dei-
nem Herzen ſcheint’s, als wenn es ohne ſie nicht
ſeyn koͤnnte, und doch — wenn du nun giengſt?
wenn du aus dieſem Kreiſe ſchiedeſt, wuͤrden ſie?
wie lange wuͤrden ſie die Luͤkke fuͤhlen, die dein
Verluſt in ihr Schikſal reißt? wie lang? —
O ſo vergaͤnglich iſt der Menſch, daß er auch da,
wo er ſeines Daſeyns eigentliche Gewißheit hat,
da, wo er den einzigen wahren Eindruk ſeiner Ge-
genwart macht; in dem Andenken in der Seele
ſeiner Lieben, daß er auch da verloͤſchen, verſchwin-
den muß, und das — ſo bald!




Jch moͤchte mir oft die Bruſt zerreiſſen und das
Gehirn einſtoßen, daß man einander ſo we-
nig ſeyn kann. Ach die Liebe und Freude und
Waͤrme und Wonne, die ich nicht hinzu bringe,
wird mir der andre nicht geben, und mit einem
ganzen Herzen voll Seligkeit, werd ich den andern
nicht begluͤkken der kalt und kraftlos vor mir ſteht.

am
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <div type="diaryEntry">
          <p><pb facs="#f0043" n="155"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
ehren dich! Du mach&#x017F;t oft ihre Freude, und dei-<lb/>
nem Herzen &#x017F;cheint&#x2019;s, als wenn es ohne &#x017F;ie nicht<lb/>
&#x017F;eyn ko&#x0364;nnte, und doch &#x2014; wenn du nun gieng&#x017F;t?<lb/>
wenn du aus die&#x017F;em Krei&#x017F;e &#x017F;chiede&#x017F;t, wu&#x0364;rden &#x017F;ie?<lb/>
wie lange wu&#x0364;rden &#x017F;ie die Lu&#x0364;kke fu&#x0364;hlen, die dein<lb/>
Verlu&#x017F;t in ihr Schik&#x017F;al reißt? wie lang? &#x2014;<lb/>
O &#x017F;o verga&#x0364;nglich i&#x017F;t der Men&#x017F;ch, daß er auch da,<lb/>
wo er &#x017F;eines Da&#x017F;eyns eigentliche Gewißheit hat,<lb/>
da, wo er den einzigen wahren Eindruk &#x017F;einer Ge-<lb/>
genwart macht; in dem Andenken in der Seele<lb/>
&#x017F;einer Lieben, daß er auch da verlo&#x0364;&#x017F;chen, ver&#x017F;chwin-<lb/>
den muß, und das &#x2014; &#x017F;o bald!</p><lb/>
        </div>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div type="diaryEntry">
          <dateline> <hi rendition="#et">am 27. Oktober.</hi> </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">J</hi>ch mo&#x0364;chte mir oft die Bru&#x017F;t zerrei&#x017F;&#x017F;en und das<lb/>
Gehirn ein&#x017F;toßen, daß man einander &#x017F;o we-<lb/>
nig &#x017F;eyn kann. Ach die Liebe und Freude und<lb/>
Wa&#x0364;rme und Wonne, die ich nicht hinzu bringe,<lb/>
wird mir der andre nicht geben, und mit einem<lb/>
ganzen Herzen voll Seligkeit, werd ich den andern<lb/>
nicht beglu&#x0364;kken der kalt und kraftlos vor mir &#x017F;teht.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">am</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[155/0043] ehren dich! Du machſt oft ihre Freude, und dei- nem Herzen ſcheint’s, als wenn es ohne ſie nicht ſeyn koͤnnte, und doch — wenn du nun giengſt? wenn du aus dieſem Kreiſe ſchiedeſt, wuͤrden ſie? wie lange wuͤrden ſie die Luͤkke fuͤhlen, die dein Verluſt in ihr Schikſal reißt? wie lang? — O ſo vergaͤnglich iſt der Menſch, daß er auch da, wo er ſeines Daſeyns eigentliche Gewißheit hat, da, wo er den einzigen wahren Eindruk ſeiner Ge- genwart macht; in dem Andenken in der Seele ſeiner Lieben, daß er auch da verloͤſchen, verſchwin- den muß, und das — ſo bald! am 27. Oktober. Jch moͤchte mir oft die Bruſt zerreiſſen und das Gehirn einſtoßen, daß man einander ſo we- nig ſeyn kann. Ach die Liebe und Freude und Waͤrme und Wonne, die ich nicht hinzu bringe, wird mir der andre nicht geben, und mit einem ganzen Herzen voll Seligkeit, werd ich den andern nicht begluͤkken der kalt und kraftlos vor mir ſteht. am

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/43
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/43>, abgerufen am 27.04.2024.