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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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VI. ^
Bolksschriftenthum.

Die Kritik steht dem sogenannten Volksschriftenthume der neuesten
Zeit verlegen gegenüber. Sie erkennt dessen unermeßliche Wichtigkeit
an und hat doch noch ihre Meßtische und Richtscheite für die litera¬
rische Beurtheilung der einzelnen Erscheinungen desselben nicht einge¬
richtet. Sie steht auch hier in einer ganz andern Stellung zum
Publicum als bei jedem andern Buche; dort will sie dem Publicum
sagen, dies und dies ist anzuempfehlen, dies und dies zu verwerfen.
Es giebt sehr große Leserkreise, welche vorzugsweise nach der Kritik
kaufen. Allein das Publicum der Volksschristen bekommt meistens
keine einzige gedruckte Kritik in die Hand, und außerdem stellt es ganz ,
andere Anforderungen an seine Bücher, als die Kritik. Beim Volke
ist's die von Munde zu Munde gehende Kritik, die naive, unmittel¬
bare, subjective Aeußerung der Empfindung bei Lesung der einen oder
andern Schrift, welche deren Verbreitung bewirkt. Das Interesse des
Volkes treffen, es amüsiren und unvermerkt, aber consequent eine be¬
stimmte Gedankenrichtung in ihm anregen-- darin liegt die Aufgabe des
Volksschristenthums und besonders jenes einen Zweiges desselben, wel¬
cher sich als Taschenbuch- oder Kalenderliteratur äußert. Die Kalen-
dcrliteratur hat sich, selbst bevor noch das eigenthümliche moderne
Volksschriftenthum so mächtig wurde, außerordentlich gehoben; be¬
sonders waren für Verbesserung der literarischen Beigaben der Kalender
gewisse ökonomische, gewerbwissenschastliche und andere Vereine thätig.
Allein, gestehen wir es offen, diese Kalender vermochten doch nicht
jene ungeheure Verbreitung gerade in den niedersten, der Bildung be¬
dürftigsten Kreisen zu finden, wie z. B. Auerbach's Gevattersmann
für welcher in einem Jahre sich in 14l>,l1W Exemplaren ver¬
kaufte. Ja, gerad im Volke hörte man oft die Klage, die
neuen Kalender seien zwar recht schön, aber so befreunden könne man
sich doch nicht mit ihnen, wie mit den alten Kalendern aus häßlich¬
grauem Papier, in roth und schwarzen Lettern und -- besonders mit
den spaßhaften Anekdoten und Geschichten. Diese verbesserten Kalen¬
der waren dem Volke zu schulmeisterlich; wenn der Mann des Vol¬
kes nach schwerer Arbeit einmal zum Lesen kommt, will er nicht im¬
mer wieder von seiner Arbeit hören und auch nicht jene Geschichten,
welche freilich heut noch Viele für acht volksthümlich halten, wie Hans
und Grete sehr arm und sehr tugendsam waren, sich außerordentlich
liebten, endlich zur Hochzeitsfeier so viel Geld erspart hatten, daß sie
eine Gans kaufen und schlachten konnten -- um nachher weiter zu
hungern. Das Volk will etwas Herzerfrischendes aus seinem Leben
hören oder aus dem Leben seiner Kreise etwas Praktisches lernen.
Dies nun auf eine Weise vermitteln, daß es selber nicht bemerkt, wie


VI. ^
Bolksschriftenthum.

Die Kritik steht dem sogenannten Volksschriftenthume der neuesten
Zeit verlegen gegenüber. Sie erkennt dessen unermeßliche Wichtigkeit
an und hat doch noch ihre Meßtische und Richtscheite für die litera¬
rische Beurtheilung der einzelnen Erscheinungen desselben nicht einge¬
richtet. Sie steht auch hier in einer ganz andern Stellung zum
Publicum als bei jedem andern Buche; dort will sie dem Publicum
sagen, dies und dies ist anzuempfehlen, dies und dies zu verwerfen.
Es giebt sehr große Leserkreise, welche vorzugsweise nach der Kritik
kaufen. Allein das Publicum der Volksschristen bekommt meistens
keine einzige gedruckte Kritik in die Hand, und außerdem stellt es ganz ,
andere Anforderungen an seine Bücher, als die Kritik. Beim Volke
ist's die von Munde zu Munde gehende Kritik, die naive, unmittel¬
bare, subjective Aeußerung der Empfindung bei Lesung der einen oder
andern Schrift, welche deren Verbreitung bewirkt. Das Interesse des
Volkes treffen, es amüsiren und unvermerkt, aber consequent eine be¬
stimmte Gedankenrichtung in ihm anregen— darin liegt die Aufgabe des
Volksschristenthums und besonders jenes einen Zweiges desselben, wel¬
cher sich als Taschenbuch- oder Kalenderliteratur äußert. Die Kalen-
dcrliteratur hat sich, selbst bevor noch das eigenthümliche moderne
Volksschriftenthum so mächtig wurde, außerordentlich gehoben; be¬
sonders waren für Verbesserung der literarischen Beigaben der Kalender
gewisse ökonomische, gewerbwissenschastliche und andere Vereine thätig.
Allein, gestehen wir es offen, diese Kalender vermochten doch nicht
jene ungeheure Verbreitung gerade in den niedersten, der Bildung be¬
dürftigsten Kreisen zu finden, wie z. B. Auerbach's Gevattersmann
für welcher in einem Jahre sich in 14l>,l1W Exemplaren ver¬
kaufte. Ja, gerad im Volke hörte man oft die Klage, die
neuen Kalender seien zwar recht schön, aber so befreunden könne man
sich doch nicht mit ihnen, wie mit den alten Kalendern aus häßlich¬
grauem Papier, in roth und schwarzen Lettern und — besonders mit
den spaßhaften Anekdoten und Geschichten. Diese verbesserten Kalen¬
der waren dem Volke zu schulmeisterlich; wenn der Mann des Vol¬
kes nach schwerer Arbeit einmal zum Lesen kommt, will er nicht im¬
mer wieder von seiner Arbeit hören und auch nicht jene Geschichten,
welche freilich heut noch Viele für acht volksthümlich halten, wie Hans
und Grete sehr arm und sehr tugendsam waren, sich außerordentlich
liebten, endlich zur Hochzeitsfeier so viel Geld erspart hatten, daß sie
eine Gans kaufen und schlachten konnten — um nachher weiter zu
hungern. Das Volk will etwas Herzerfrischendes aus seinem Leben
hören oder aus dem Leben seiner Kreise etwas Praktisches lernen.
Dies nun auf eine Weise vermitteln, daß es selber nicht bemerkt, wie


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[0341] VI. ^ Bolksschriftenthum. Die Kritik steht dem sogenannten Volksschriftenthume der neuesten Zeit verlegen gegenüber. Sie erkennt dessen unermeßliche Wichtigkeit an und hat doch noch ihre Meßtische und Richtscheite für die litera¬ rische Beurtheilung der einzelnen Erscheinungen desselben nicht einge¬ richtet. Sie steht auch hier in einer ganz andern Stellung zum Publicum als bei jedem andern Buche; dort will sie dem Publicum sagen, dies und dies ist anzuempfehlen, dies und dies zu verwerfen. Es giebt sehr große Leserkreise, welche vorzugsweise nach der Kritik kaufen. Allein das Publicum der Volksschristen bekommt meistens keine einzige gedruckte Kritik in die Hand, und außerdem stellt es ganz , andere Anforderungen an seine Bücher, als die Kritik. Beim Volke ist's die von Munde zu Munde gehende Kritik, die naive, unmittel¬ bare, subjective Aeußerung der Empfindung bei Lesung der einen oder andern Schrift, welche deren Verbreitung bewirkt. Das Interesse des Volkes treffen, es amüsiren und unvermerkt, aber consequent eine be¬ stimmte Gedankenrichtung in ihm anregen— darin liegt die Aufgabe des Volksschristenthums und besonders jenes einen Zweiges desselben, wel¬ cher sich als Taschenbuch- oder Kalenderliteratur äußert. Die Kalen- dcrliteratur hat sich, selbst bevor noch das eigenthümliche moderne Volksschriftenthum so mächtig wurde, außerordentlich gehoben; be¬ sonders waren für Verbesserung der literarischen Beigaben der Kalender gewisse ökonomische, gewerbwissenschastliche und andere Vereine thätig. Allein, gestehen wir es offen, diese Kalender vermochten doch nicht jene ungeheure Verbreitung gerade in den niedersten, der Bildung be¬ dürftigsten Kreisen zu finden, wie z. B. Auerbach's Gevattersmann für welcher in einem Jahre sich in 14l>,l1W Exemplaren ver¬ kaufte. Ja, gerad im Volke hörte man oft die Klage, die neuen Kalender seien zwar recht schön, aber so befreunden könne man sich doch nicht mit ihnen, wie mit den alten Kalendern aus häßlich¬ grauem Papier, in roth und schwarzen Lettern und — besonders mit den spaßhaften Anekdoten und Geschichten. Diese verbesserten Kalen¬ der waren dem Volke zu schulmeisterlich; wenn der Mann des Vol¬ kes nach schwerer Arbeit einmal zum Lesen kommt, will er nicht im¬ mer wieder von seiner Arbeit hören und auch nicht jene Geschichten, welche freilich heut noch Viele für acht volksthümlich halten, wie Hans und Grete sehr arm und sehr tugendsam waren, sich außerordentlich liebten, endlich zur Hochzeitsfeier so viel Geld erspart hatten, daß sie eine Gans kaufen und schlachten konnten — um nachher weiter zu hungern. Das Volk will etwas Herzerfrischendes aus seinem Leben hören oder aus dem Leben seiner Kreise etwas Praktisches lernen. Dies nun auf eine Weise vermitteln, daß es selber nicht bemerkt, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/341>, abgerufen am 29.04.2024.