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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Dramaturgische Miscellen.

Der Mangel an neuen Prvductio.um der dramatischen Muse, an welche wir
unsere Betrachtungen über die Kunst anknüpfen konnten, zwingt uus, von Zeit
zu Zeit auf ältere Stücke zurückzugehn. Wir folgen heute dem zufälligen Gang
des Leipziger Theaters, dessen ziemlich reichhaltiges Repertoir bisweilen zu interessan¬
ten Vergleichungen Anlaß gibt.

Wir haben in kurzer Zeit hinter einander drei ältere und drei "euere Stücke
gesehn, an denen wir zwei wesentlich entgegengesetzte Richtungen des Schauspiels
verfolgen können, um so mehr, da sie sich, was den Stoff betrifft, auf einem ähn¬
lichen Gebiet bewegen. Die älteren sind: Kabale und Liebe von Schiller,
die Macht der Verhältnisse von Robert (eigentlich Lewin, Bruder der
Rahel), und die Jäger von Jffland; die neuen: die Karlsschüler von
Laube; das Urbild des Tartüffe vou Gutzkow; wenn wir noch ein
historisches Stück von der Birch-Pfeiffer, Mazarin, hinzufüge", so ge¬
schieht es uicht der Gleichartigkeit, sondern des Contrastes halber.

Wir beginnen mit den Karlsschülern, dem Versuch, die Jugend Schil¬
lers und den Kampf seines ursprünglichen Geistes gegen die "Macht der Ver¬
hältnisse" poetisch darzustellen. Wir lassen dabei die Frage, ob überhaupt ein
Dichter geeignet ist, Gegenstand eines dramatischen Gedichts zu werden, aus dem
Spiel, da sie sich in dieser Allgemeinheit schwerlich wird beantworten lassen; denn
wenn es auch seine Schwierigkeiten hat, diejenige Kraft, wodurch der Dichter
über die gewöhnlichen Menschen hervorragt, ans der Bühne darzustellen, die ein
unmittelbares, nicht ein reflectütes Leben verlangt, und wenn wir auch zugeben,
daß die Neigung der neuen Poeten, von Goethe's Tasso an bis zu Vignu's
Chatterton, Gutzkow's Gavage und seinem neuesten Fragment ans Goethe's Ju-
gendleben, ihre Helden an fremdem Feuer zu erwärmen, statt des eignen, von einem
Mangel an eigentlich produktiver Kraft zeugt, der für die Entwickelung der Kunst
bedenklich werde" ka"": so wird mau doch auch uicht leugnen wolle", daß der
Dichter gerade durch seiue eigenthümliche Auffassung des Lebeus in Conflicte mit
demselben gerathen kau", die ihm eine dramatische Berechtigung geben; man wird
serner nicht leugnen, daß der echte Dichter den verwandten Geist in seineu Em¬
pfindungen und seiner Erhebung über die Zeit wird darstellen können, ohne sich
geradezu in Reminiscenzen zu bewegen. Da uns der Tasso vorliegt, können wir
sagen: facta loqaunwr.

Der Conflict, der den Karlsschülern zu Grunde liegt, ist, abgesehen von
seiner Durchführung, ein allgemein menschlicher. Der Geist, in welchem sich
die aufgehende Sonne einer neuen Zeit spiegelt, wird in eine nothwendige Oppo-


Dramaturgische Miscellen.

Der Mangel an neuen Prvductio.um der dramatischen Muse, an welche wir
unsere Betrachtungen über die Kunst anknüpfen konnten, zwingt uus, von Zeit
zu Zeit auf ältere Stücke zurückzugehn. Wir folgen heute dem zufälligen Gang
des Leipziger Theaters, dessen ziemlich reichhaltiges Repertoir bisweilen zu interessan¬
ten Vergleichungen Anlaß gibt.

Wir haben in kurzer Zeit hinter einander drei ältere und drei »euere Stücke
gesehn, an denen wir zwei wesentlich entgegengesetzte Richtungen des Schauspiels
verfolgen können, um so mehr, da sie sich, was den Stoff betrifft, auf einem ähn¬
lichen Gebiet bewegen. Die älteren sind: Kabale und Liebe von Schiller,
die Macht der Verhältnisse von Robert (eigentlich Lewin, Bruder der
Rahel), und die Jäger von Jffland; die neuen: die Karlsschüler von
Laube; das Urbild des Tartüffe vou Gutzkow; wenn wir noch ein
historisches Stück von der Birch-Pfeiffer, Mazarin, hinzufüge», so ge¬
schieht es uicht der Gleichartigkeit, sondern des Contrastes halber.

Wir beginnen mit den Karlsschülern, dem Versuch, die Jugend Schil¬
lers und den Kampf seines ursprünglichen Geistes gegen die „Macht der Ver¬
hältnisse" poetisch darzustellen. Wir lassen dabei die Frage, ob überhaupt ein
Dichter geeignet ist, Gegenstand eines dramatischen Gedichts zu werden, aus dem
Spiel, da sie sich in dieser Allgemeinheit schwerlich wird beantworten lassen; denn
wenn es auch seine Schwierigkeiten hat, diejenige Kraft, wodurch der Dichter
über die gewöhnlichen Menschen hervorragt, ans der Bühne darzustellen, die ein
unmittelbares, nicht ein reflectütes Leben verlangt, und wenn wir auch zugeben,
daß die Neigung der neuen Poeten, von Goethe's Tasso an bis zu Vignu's
Chatterton, Gutzkow's Gavage und seinem neuesten Fragment ans Goethe's Ju-
gendleben, ihre Helden an fremdem Feuer zu erwärmen, statt des eignen, von einem
Mangel an eigentlich produktiver Kraft zeugt, der für die Entwickelung der Kunst
bedenklich werde» ka»»: so wird mau doch auch uicht leugnen wolle», daß der
Dichter gerade durch seiue eigenthümliche Auffassung des Lebeus in Conflicte mit
demselben gerathen kau», die ihm eine dramatische Berechtigung geben; man wird
serner nicht leugnen, daß der echte Dichter den verwandten Geist in seineu Em¬
pfindungen und seiner Erhebung über die Zeit wird darstellen können, ohne sich
geradezu in Reminiscenzen zu bewegen. Da uns der Tasso vorliegt, können wir
sagen: facta loqaunwr.

Der Conflict, der den Karlsschülern zu Grunde liegt, ist, abgesehen von
seiner Durchführung, ein allgemein menschlicher. Der Geist, in welchem sich
die aufgehende Sonne einer neuen Zeit spiegelt, wird in eine nothwendige Oppo-


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[0272] Dramaturgische Miscellen. Der Mangel an neuen Prvductio.um der dramatischen Muse, an welche wir unsere Betrachtungen über die Kunst anknüpfen konnten, zwingt uus, von Zeit zu Zeit auf ältere Stücke zurückzugehn. Wir folgen heute dem zufälligen Gang des Leipziger Theaters, dessen ziemlich reichhaltiges Repertoir bisweilen zu interessan¬ ten Vergleichungen Anlaß gibt. Wir haben in kurzer Zeit hinter einander drei ältere und drei »euere Stücke gesehn, an denen wir zwei wesentlich entgegengesetzte Richtungen des Schauspiels verfolgen können, um so mehr, da sie sich, was den Stoff betrifft, auf einem ähn¬ lichen Gebiet bewegen. Die älteren sind: Kabale und Liebe von Schiller, die Macht der Verhältnisse von Robert (eigentlich Lewin, Bruder der Rahel), und die Jäger von Jffland; die neuen: die Karlsschüler von Laube; das Urbild des Tartüffe vou Gutzkow; wenn wir noch ein historisches Stück von der Birch-Pfeiffer, Mazarin, hinzufüge», so ge¬ schieht es uicht der Gleichartigkeit, sondern des Contrastes halber. Wir beginnen mit den Karlsschülern, dem Versuch, die Jugend Schil¬ lers und den Kampf seines ursprünglichen Geistes gegen die „Macht der Ver¬ hältnisse" poetisch darzustellen. Wir lassen dabei die Frage, ob überhaupt ein Dichter geeignet ist, Gegenstand eines dramatischen Gedichts zu werden, aus dem Spiel, da sie sich in dieser Allgemeinheit schwerlich wird beantworten lassen; denn wenn es auch seine Schwierigkeiten hat, diejenige Kraft, wodurch der Dichter über die gewöhnlichen Menschen hervorragt, ans der Bühne darzustellen, die ein unmittelbares, nicht ein reflectütes Leben verlangt, und wenn wir auch zugeben, daß die Neigung der neuen Poeten, von Goethe's Tasso an bis zu Vignu's Chatterton, Gutzkow's Gavage und seinem neuesten Fragment ans Goethe's Ju- gendleben, ihre Helden an fremdem Feuer zu erwärmen, statt des eignen, von einem Mangel an eigentlich produktiver Kraft zeugt, der für die Entwickelung der Kunst bedenklich werde» ka»»: so wird mau doch auch uicht leugnen wolle», daß der Dichter gerade durch seiue eigenthümliche Auffassung des Lebeus in Conflicte mit demselben gerathen kau», die ihm eine dramatische Berechtigung geben; man wird serner nicht leugnen, daß der echte Dichter den verwandten Geist in seineu Em¬ pfindungen und seiner Erhebung über die Zeit wird darstellen können, ohne sich geradezu in Reminiscenzen zu bewegen. Da uns der Tasso vorliegt, können wir sagen: facta loqaunwr. Der Conflict, der den Karlsschülern zu Grunde liegt, ist, abgesehen von seiner Durchführung, ein allgemein menschlicher. Der Geist, in welchem sich die aufgehende Sonne einer neuen Zeit spiegelt, wird in eine nothwendige Oppo-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/272>, abgerufen am 07.05.2024.