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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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Wolken-Arangemcnt verstärkt bei der Aufführung den zauberspiegelartigen Ein¬
druck, den die Tragödie ohnedies kaum verfehlen kann, da die auftretenden
Personen gleich Schachfiguren nach dem Willen der göttlichen Spielerin Kypris
agiren. Ich trete mit diesem Urtheil nicht dem historischen Werthe des Werks
zu nahe, aber ich muß bestreiten, daß in der Gegenwart bei natürlich empfinden¬
den Personen eine lebendige Theilnahme für die Darstellung desselben auf der
Bühne zu erwecken sei. Die völlige Unselbständigkeit des menschlichen Handelns
kann auf dem heutigen Theater nur Gegenstand der Komik sein, oder sie wird
A. G. langweilig, und -- langweilig ist die Aufführung des Hippolytos.




Das Proverb e.

In neuester Zeit ist diese Gattung des Drama's von den Pariser Dichtern
in so zahlreichen Versuchen ausgebildet worden, daß es bald als ebenbürtig sich
neben das Vaudeville wird stellen können. Die Form hat sich, nach und uach so
frei entwickelt, daß der Name seinen ursprünglichen Sinn fast ganz verloren hat.
Seine erste Bestimmung war eine gesellige Unterhaltung in gebildeten Kreisen,
in denen man durch einen leicht skizzirten Dialog, dessen Detail vollständig im-
provisirt wurde, mit Etwas hinzugefügter Handlung ein Sprichwort zu errathen
gab, welches gleichsam als Moral der Darstellung dienen sollte. Das große
Talent der Franzosen aber, anmuthig zu plaudern, und ihre Freude an dem zier¬
lichen Detail einer sich in leichten, bequemen Formen bewegenden Unterhaltung
hat diesen Zweck zur Nebensache gemacht. Man improvisirt nicht mehr die Sprich¬
wörter für eine muntere Abendgesellschaft, sondern man schreibt sie für das ge¬
bildete Publicum, und sie unterscheiden sich von dem eigentlichen Lustspiel im
Wesentlichen nur durch die kürzere Dauer und dnrch die geringere Anzahl von
Personen, welche darin vorkommen. Aber auch daraus wird nicht mehr streng
gehalten. In dem neuesten allerliebsten Prvvcrbe: "Glück im Unglück", welches
Scribe im Constitutiounel veröffentlicht hat, und worin er als echter Dichter der
Bourgeoisie die Thorheiten des Communismus, so wie der aristokratischen Gleich-
giltigkeit gegen den Staat verspottet, enthält eine ziemliche Reihe von Scenen
und Personen, doch unterscheidet es noch immer die losere und freiere Behand¬
lung, die es mit dem Vaudeville gemein hat, von dem regelmäßigen Lustspiel;
von dem Vaudeville dagegen unterscheidet es sich dadurch, daß es seiner ganzen
Anlage nach für das feinere Publicum, für den Salon berechnet ist, während das
Vaudeville sich an das Volk wendet. Das letztere operirt mit derberen Stich¬
wörtern und Sympathien, es gibt nur ganz allgemeine Umrisse und verlangt


Wolken-Arangemcnt verstärkt bei der Aufführung den zauberspiegelartigen Ein¬
druck, den die Tragödie ohnedies kaum verfehlen kann, da die auftretenden
Personen gleich Schachfiguren nach dem Willen der göttlichen Spielerin Kypris
agiren. Ich trete mit diesem Urtheil nicht dem historischen Werthe des Werks
zu nahe, aber ich muß bestreiten, daß in der Gegenwart bei natürlich empfinden¬
den Personen eine lebendige Theilnahme für die Darstellung desselben auf der
Bühne zu erwecken sei. Die völlige Unselbständigkeit des menschlichen Handelns
kann auf dem heutigen Theater nur Gegenstand der Komik sein, oder sie wird
A. G. langweilig, und — langweilig ist die Aufführung des Hippolytos.




Das Proverb e.

In neuester Zeit ist diese Gattung des Drama's von den Pariser Dichtern
in so zahlreichen Versuchen ausgebildet worden, daß es bald als ebenbürtig sich
neben das Vaudeville wird stellen können. Die Form hat sich, nach und uach so
frei entwickelt, daß der Name seinen ursprünglichen Sinn fast ganz verloren hat.
Seine erste Bestimmung war eine gesellige Unterhaltung in gebildeten Kreisen,
in denen man durch einen leicht skizzirten Dialog, dessen Detail vollständig im-
provisirt wurde, mit Etwas hinzugefügter Handlung ein Sprichwort zu errathen
gab, welches gleichsam als Moral der Darstellung dienen sollte. Das große
Talent der Franzosen aber, anmuthig zu plaudern, und ihre Freude an dem zier¬
lichen Detail einer sich in leichten, bequemen Formen bewegenden Unterhaltung
hat diesen Zweck zur Nebensache gemacht. Man improvisirt nicht mehr die Sprich¬
wörter für eine muntere Abendgesellschaft, sondern man schreibt sie für das ge¬
bildete Publicum, und sie unterscheiden sich von dem eigentlichen Lustspiel im
Wesentlichen nur durch die kürzere Dauer und dnrch die geringere Anzahl von
Personen, welche darin vorkommen. Aber auch daraus wird nicht mehr streng
gehalten. In dem neuesten allerliebsten Prvvcrbe: „Glück im Unglück", welches
Scribe im Constitutiounel veröffentlicht hat, und worin er als echter Dichter der
Bourgeoisie die Thorheiten des Communismus, so wie der aristokratischen Gleich-
giltigkeit gegen den Staat verspottet, enthält eine ziemliche Reihe von Scenen
und Personen, doch unterscheidet es noch immer die losere und freiere Behand¬
lung, die es mit dem Vaudeville gemein hat, von dem regelmäßigen Lustspiel;
von dem Vaudeville dagegen unterscheidet es sich dadurch, daß es seiner ganzen
Anlage nach für das feinere Publicum, für den Salon berechnet ist, während das
Vaudeville sich an das Volk wendet. Das letztere operirt mit derberen Stich¬
wörtern und Sympathien, es gibt nur ganz allgemeine Umrisse und verlangt


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[0280] Wolken-Arangemcnt verstärkt bei der Aufführung den zauberspiegelartigen Ein¬ druck, den die Tragödie ohnedies kaum verfehlen kann, da die auftretenden Personen gleich Schachfiguren nach dem Willen der göttlichen Spielerin Kypris agiren. Ich trete mit diesem Urtheil nicht dem historischen Werthe des Werks zu nahe, aber ich muß bestreiten, daß in der Gegenwart bei natürlich empfinden¬ den Personen eine lebendige Theilnahme für die Darstellung desselben auf der Bühne zu erwecken sei. Die völlige Unselbständigkeit des menschlichen Handelns kann auf dem heutigen Theater nur Gegenstand der Komik sein, oder sie wird A. G. langweilig, und — langweilig ist die Aufführung des Hippolytos. Das Proverb e. In neuester Zeit ist diese Gattung des Drama's von den Pariser Dichtern in so zahlreichen Versuchen ausgebildet worden, daß es bald als ebenbürtig sich neben das Vaudeville wird stellen können. Die Form hat sich, nach und uach so frei entwickelt, daß der Name seinen ursprünglichen Sinn fast ganz verloren hat. Seine erste Bestimmung war eine gesellige Unterhaltung in gebildeten Kreisen, in denen man durch einen leicht skizzirten Dialog, dessen Detail vollständig im- provisirt wurde, mit Etwas hinzugefügter Handlung ein Sprichwort zu errathen gab, welches gleichsam als Moral der Darstellung dienen sollte. Das große Talent der Franzosen aber, anmuthig zu plaudern, und ihre Freude an dem zier¬ lichen Detail einer sich in leichten, bequemen Formen bewegenden Unterhaltung hat diesen Zweck zur Nebensache gemacht. Man improvisirt nicht mehr die Sprich¬ wörter für eine muntere Abendgesellschaft, sondern man schreibt sie für das ge¬ bildete Publicum, und sie unterscheiden sich von dem eigentlichen Lustspiel im Wesentlichen nur durch die kürzere Dauer und dnrch die geringere Anzahl von Personen, welche darin vorkommen. Aber auch daraus wird nicht mehr streng gehalten. In dem neuesten allerliebsten Prvvcrbe: „Glück im Unglück", welches Scribe im Constitutiounel veröffentlicht hat, und worin er als echter Dichter der Bourgeoisie die Thorheiten des Communismus, so wie der aristokratischen Gleich- giltigkeit gegen den Staat verspottet, enthält eine ziemliche Reihe von Scenen und Personen, doch unterscheidet es noch immer die losere und freiere Behand¬ lung, die es mit dem Vaudeville gemein hat, von dem regelmäßigen Lustspiel; von dem Vaudeville dagegen unterscheidet es sich dadurch, daß es seiner ganzen Anlage nach für das feinere Publicum, für den Salon berechnet ist, während das Vaudeville sich an das Volk wendet. Das letztere operirt mit derberen Stich¬ wörtern und Sympathien, es gibt nur ganz allgemeine Umrisse und verlangt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/280>, abgerufen am 28.04.2024.