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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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darauf beschränkt, immer nur dann zu sprechen, wenn das Herz ihn trieb, wenn
er also wirklich Etwas zu sagen hatte, so wäre er vielleicht ein klassischer Dichter
geworden. Da er aber niemals aufhören konnte, so wurde der unbefangene Fluß
seiner Improvisation endlich zur Manier, und die freie Thätigkeit seiner Einbildungs¬
kraft artete bald in triviale Geschwätzigkeit, bald in sorcirtes Pathos aus. Die
neu aufgenommenen Gedichte sind nnter aller Kritik; es siud Gelegenheitsgedichte
im schlechtesten Sinn.

Am Schlimmsten aber nimmt sich jene eigenthümliche Bildung in kritischen
Versuche" aus. Wenn mau ihm schon in seinen Gedichten mit Recht den Vor-
wurf machen kann, daß er in seinen Bildern häufig ungenau nud darum unschön
wird, theils, weil er sich nicht die Mühe giebt, die Natur des angefangenen Bildes
zu untersuchen, theils, weil er in der Anwendung kein Gesetz beobachtet (so ver¬
gleicht er einmal Jesus Christus mit einer Sonne, die dadurch vor den Augen
der Menschen verdunkelt wird, weil die Erde ihre Schatten darauf wirft, während
doch der schattenwersende Körper zwischen dem anschauenden Meuscheu und der ver-
dunkelten Sonne stehen müßte), so wird diese Willkürlichkeit in der Prosa geradezu
unerträglich. Lamartine urtheilt über Alles, was ihm irgend einfällt, mit der un¬
fehlbaren Sicherheit eines Papstes. Da er sich nun aber nie die Mühe giebt,
auch nnr oberflächlich die Gegenstände, über die er urtheilt, zu studiren, so ist in
diesen Behauptungen eine Unklarheit und z" gleicher Zeit eine Prätension, die
kein Deutscher bei seinem Kritiker dulden würde. Bei deu Franzosen ist die Pietät
gegen einen altgefeierten Namen größer: obgleich Lamartine von Jahr zu Jahr
sich verschlechtert, und trotz der politische" Animosität, die sich gegen ihn erhoben
hat, ist doch der Nimbus seines Ruhmes nicht ganz von ihm gewichen, und nur
die scharfsichtigere Kritik durchschaut ihn.




Zur Geschichte der neuern Polnischen Literatur.

Auch die Polnische Literatur hatte eine "Periode der Nachahmung", und
mehr und länger als in Deutschland herrschte hier der Zwang willkürlicher Regel
Französischer Dogmatiker. Es war schon allmälig bahl" gekommen, daß das
Franzosenthum nicht nur eiuen bedeutenden Einfluß auf die einheimischen Geistes-
producte ausübte, sondern selbst die "klassischen" Schriftsteller der frühern Periode
ganz verdrängte. Wilna, die Universitätsstadt, war der damalige Brennpunkt
der Polnischen Literatur und Wissenschaft. Von hier erging der Ruf an die Ge¬
lehrten, der Fremdherrschaft in der Literatur ein Ende zu macheu. Ein Häuslein
thatkräftiger Männer, nnter welchen die damaligen Lehrer der Hochschule sich aus¬
zeichneten, hatte sich bereits durch Englische und Deutsche Studien dem großen


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darauf beschränkt, immer nur dann zu sprechen, wenn das Herz ihn trieb, wenn
er also wirklich Etwas zu sagen hatte, so wäre er vielleicht ein klassischer Dichter
geworden. Da er aber niemals aufhören konnte, so wurde der unbefangene Fluß
seiner Improvisation endlich zur Manier, und die freie Thätigkeit seiner Einbildungs¬
kraft artete bald in triviale Geschwätzigkeit, bald in sorcirtes Pathos aus. Die
neu aufgenommenen Gedichte sind nnter aller Kritik; es siud Gelegenheitsgedichte
im schlechtesten Sinn.

Am Schlimmsten aber nimmt sich jene eigenthümliche Bildung in kritischen
Versuche» aus. Wenn mau ihm schon in seinen Gedichten mit Recht den Vor-
wurf machen kann, daß er in seinen Bildern häufig ungenau nud darum unschön
wird, theils, weil er sich nicht die Mühe giebt, die Natur des angefangenen Bildes
zu untersuchen, theils, weil er in der Anwendung kein Gesetz beobachtet (so ver¬
gleicht er einmal Jesus Christus mit einer Sonne, die dadurch vor den Augen
der Menschen verdunkelt wird, weil die Erde ihre Schatten darauf wirft, während
doch der schattenwersende Körper zwischen dem anschauenden Meuscheu und der ver-
dunkelten Sonne stehen müßte), so wird diese Willkürlichkeit in der Prosa geradezu
unerträglich. Lamartine urtheilt über Alles, was ihm irgend einfällt, mit der un¬
fehlbaren Sicherheit eines Papstes. Da er sich nun aber nie die Mühe giebt,
auch nnr oberflächlich die Gegenstände, über die er urtheilt, zu studiren, so ist in
diesen Behauptungen eine Unklarheit und z» gleicher Zeit eine Prätension, die
kein Deutscher bei seinem Kritiker dulden würde. Bei deu Franzosen ist die Pietät
gegen einen altgefeierten Namen größer: obgleich Lamartine von Jahr zu Jahr
sich verschlechtert, und trotz der politische» Animosität, die sich gegen ihn erhoben
hat, ist doch der Nimbus seines Ruhmes nicht ganz von ihm gewichen, und nur
die scharfsichtigere Kritik durchschaut ihn.




Zur Geschichte der neuern Polnischen Literatur.

Auch die Polnische Literatur hatte eine „Periode der Nachahmung", und
mehr und länger als in Deutschland herrschte hier der Zwang willkürlicher Regel
Französischer Dogmatiker. Es war schon allmälig bahl» gekommen, daß das
Franzosenthum nicht nur eiuen bedeutenden Einfluß auf die einheimischen Geistes-
producte ausübte, sondern selbst die „klassischen" Schriftsteller der frühern Periode
ganz verdrängte. Wilna, die Universitätsstadt, war der damalige Brennpunkt
der Polnischen Literatur und Wissenschaft. Von hier erging der Ruf an die Ge¬
lehrten, der Fremdherrschaft in der Literatur ein Ende zu macheu. Ein Häuslein
thatkräftiger Männer, nnter welchen die damaligen Lehrer der Hochschule sich aus¬
zeichneten, hatte sich bereits durch Englische und Deutsche Studien dem großen


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[0519] darauf beschränkt, immer nur dann zu sprechen, wenn das Herz ihn trieb, wenn er also wirklich Etwas zu sagen hatte, so wäre er vielleicht ein klassischer Dichter geworden. Da er aber niemals aufhören konnte, so wurde der unbefangene Fluß seiner Improvisation endlich zur Manier, und die freie Thätigkeit seiner Einbildungs¬ kraft artete bald in triviale Geschwätzigkeit, bald in sorcirtes Pathos aus. Die neu aufgenommenen Gedichte sind nnter aller Kritik; es siud Gelegenheitsgedichte im schlechtesten Sinn. Am Schlimmsten aber nimmt sich jene eigenthümliche Bildung in kritischen Versuche» aus. Wenn mau ihm schon in seinen Gedichten mit Recht den Vor- wurf machen kann, daß er in seinen Bildern häufig ungenau nud darum unschön wird, theils, weil er sich nicht die Mühe giebt, die Natur des angefangenen Bildes zu untersuchen, theils, weil er in der Anwendung kein Gesetz beobachtet (so ver¬ gleicht er einmal Jesus Christus mit einer Sonne, die dadurch vor den Augen der Menschen verdunkelt wird, weil die Erde ihre Schatten darauf wirft, während doch der schattenwersende Körper zwischen dem anschauenden Meuscheu und der ver- dunkelten Sonne stehen müßte), so wird diese Willkürlichkeit in der Prosa geradezu unerträglich. Lamartine urtheilt über Alles, was ihm irgend einfällt, mit der un¬ fehlbaren Sicherheit eines Papstes. Da er sich nun aber nie die Mühe giebt, auch nnr oberflächlich die Gegenstände, über die er urtheilt, zu studiren, so ist in diesen Behauptungen eine Unklarheit und z» gleicher Zeit eine Prätension, die kein Deutscher bei seinem Kritiker dulden würde. Bei deu Franzosen ist die Pietät gegen einen altgefeierten Namen größer: obgleich Lamartine von Jahr zu Jahr sich verschlechtert, und trotz der politische» Animosität, die sich gegen ihn erhoben hat, ist doch der Nimbus seines Ruhmes nicht ganz von ihm gewichen, und nur die scharfsichtigere Kritik durchschaut ihn. Zur Geschichte der neuern Polnischen Literatur. Auch die Polnische Literatur hatte eine „Periode der Nachahmung", und mehr und länger als in Deutschland herrschte hier der Zwang willkürlicher Regel Französischer Dogmatiker. Es war schon allmälig bahl» gekommen, daß das Franzosenthum nicht nur eiuen bedeutenden Einfluß auf die einheimischen Geistes- producte ausübte, sondern selbst die „klassischen" Schriftsteller der frühern Periode ganz verdrängte. Wilna, die Universitätsstadt, war der damalige Brennpunkt der Polnischen Literatur und Wissenschaft. Von hier erging der Ruf an die Ge¬ lehrten, der Fremdherrschaft in der Literatur ein Ende zu macheu. Ein Häuslein thatkräftiger Männer, nnter welchen die damaligen Lehrer der Hochschule sich aus¬ zeichneten, hatte sich bereits durch Englische und Deutsche Studien dem großen 64 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/519>, abgerufen am 28.04.2024.