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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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Plaudereien und Bücher über Rußland.

Vor Kurzem inspicirteu Se. Maj. der Kaiser aller Reußen nebst hoher
Familie ihre deutschen BesHthümer, nämlich an Regimentern, Residenzschlössern
und Ministerhotels. Der Graf Cancrin schlummert im Grabe. Er war ein gries-
grämlicher Herr, welcher schon 1842 die Einstellung solcher kaiserlichen Tagfahrten
als, eine der Bedingungen seines Verbleibens am Fiuauzruder gefordert und zu¬
gestanden erhalten hatte. Sein Nachfolger Wrontscheuko ist nun auch gestorben,
und Herr v. Brok hat blos die Verwesung der Finanzen zu besorgen. Europa
wird also voraussichtlich czarischc Familieureisen nun wieder in gleicher Häufigkeit
wie in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre zu erwarten haben. Während
aber vor 18i8 bei solchen Reisegelegenheiten der allein daheimbleibende.Thron¬
folger die interimistische Regentschaft durch einen besondern Ukas übertragen bekam,
scheint derartige Präcautiou jetzt nicht mehr nöthig.

Der echte mitteleuropäische Patriot erschaut mit Sehnsucht die Herrlichkeit
der russischen Zustände, in desto grauserem Dunkel die Trostlosigkeit der eigenen.
Es muß in ihm aufflammen, wie eine Pftngstoffenbarung, daß auch Deutschlands
Größe, Macht und Glückesfülle nur an Rußlands Hand, durch Rußlands Rath,
unter Rußlands Einfluß aufsteigen kaun; namentlich die Freiheit und Einheit --
natürlich "nicht jene materielle Einheit, von welcher eine eroberungssüchtige De¬
mokratie träumt, sondern die moralische," wie die Petersburger Circulardepesche
es schon am 6. Juli 18i8 ebeu so wahr als präcis bezeichnete. Wem diese
Erkenntniß nicht ersteht, für den existiren freilich solche Zeichen und Stimmen nicht.

Das Bedürfniß nach.dicken und gutgesinnten Büchern über Rußland hat in
neuerer Zeit ziemlich reichliche Nahrung gesunden. Unter den Gutgesinnten steht
jedenfalls Herr Zaudo mit seinen "Russischen Zuständen im Jahre 1830" oben
an. Vielleicht wäre das Buch auch etwas weniger unzuverlässig in seineu eigenen
angeblichen Erfahrungen, vielleicht ferner etwas wieder zusammengestoppelt aus
einer ganzen Reihe früher erschienenen Werke über Rußland, wenn es dickleibiger
wäre. Es beweist und erklärt gar nichts; es behauptet nur, was von den Ge¬
nossen seiner Gesinnungen schon hundert Mal und zwar scharfsinniger, dialektischer
aufgestellt und durchgeführt, wenn anch nicht bewiesen worden ist. Was es da¬
gegen selbstständig sagt, ist so vollkommen bedeutungslos und banal, daß selbst
der bestgesiuute Deutsche darüber einzuschlafen versucht wird. Von einer Schil¬
derung russischer Zustände "im Jahr 1830" ist vollends keine Rede; der Ver¬
fasser gelangt vor vielem Reden in einem schlottrigen Deutsch überhaupt sehr
ausnahmsweise zu thatsächlichen Darlegungen. Und wenn er hier und da eine
neuere statistische Notiz einfügt, so kann man sie sicherlich bereits in einem deutschen


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Plaudereien und Bücher über Rußland.

Vor Kurzem inspicirteu Se. Maj. der Kaiser aller Reußen nebst hoher
Familie ihre deutschen BesHthümer, nämlich an Regimentern, Residenzschlössern
und Ministerhotels. Der Graf Cancrin schlummert im Grabe. Er war ein gries-
grämlicher Herr, welcher schon 1842 die Einstellung solcher kaiserlichen Tagfahrten
als, eine der Bedingungen seines Verbleibens am Fiuauzruder gefordert und zu¬
gestanden erhalten hatte. Sein Nachfolger Wrontscheuko ist nun auch gestorben,
und Herr v. Brok hat blos die Verwesung der Finanzen zu besorgen. Europa
wird also voraussichtlich czarischc Familieureisen nun wieder in gleicher Häufigkeit
wie in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre zu erwarten haben. Während
aber vor 18i8 bei solchen Reisegelegenheiten der allein daheimbleibende.Thron¬
folger die interimistische Regentschaft durch einen besondern Ukas übertragen bekam,
scheint derartige Präcautiou jetzt nicht mehr nöthig.

Der echte mitteleuropäische Patriot erschaut mit Sehnsucht die Herrlichkeit
der russischen Zustände, in desto grauserem Dunkel die Trostlosigkeit der eigenen.
Es muß in ihm aufflammen, wie eine Pftngstoffenbarung, daß auch Deutschlands
Größe, Macht und Glückesfülle nur an Rußlands Hand, durch Rußlands Rath,
unter Rußlands Einfluß aufsteigen kaun; namentlich die Freiheit und Einheit —
natürlich „nicht jene materielle Einheit, von welcher eine eroberungssüchtige De¬
mokratie träumt, sondern die moralische," wie die Petersburger Circulardepesche
es schon am 6. Juli 18i8 ebeu so wahr als präcis bezeichnete. Wem diese
Erkenntniß nicht ersteht, für den existiren freilich solche Zeichen und Stimmen nicht.

Das Bedürfniß nach.dicken und gutgesinnten Büchern über Rußland hat in
neuerer Zeit ziemlich reichliche Nahrung gesunden. Unter den Gutgesinnten steht
jedenfalls Herr Zaudo mit seinen „Russischen Zuständen im Jahre 1830" oben
an. Vielleicht wäre das Buch auch etwas weniger unzuverlässig in seineu eigenen
angeblichen Erfahrungen, vielleicht ferner etwas wieder zusammengestoppelt aus
einer ganzen Reihe früher erschienenen Werke über Rußland, wenn es dickleibiger
wäre. Es beweist und erklärt gar nichts; es behauptet nur, was von den Ge¬
nossen seiner Gesinnungen schon hundert Mal und zwar scharfsinniger, dialektischer
aufgestellt und durchgeführt, wenn anch nicht bewiesen worden ist. Was es da¬
gegen selbstständig sagt, ist so vollkommen bedeutungslos und banal, daß selbst
der bestgesiuute Deutsche darüber einzuschlafen versucht wird. Von einer Schil¬
derung russischer Zustände „im Jahr 1830" ist vollends keine Rede; der Ver¬
fasser gelangt vor vielem Reden in einem schlottrigen Deutsch überhaupt sehr
ausnahmsweise zu thatsächlichen Darlegungen. Und wenn er hier und da eine
neuere statistische Notiz einfügt, so kann man sie sicherlich bereits in einem deutschen


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[0035] Plaudereien und Bücher über Rußland. Vor Kurzem inspicirteu Se. Maj. der Kaiser aller Reußen nebst hoher Familie ihre deutschen BesHthümer, nämlich an Regimentern, Residenzschlössern und Ministerhotels. Der Graf Cancrin schlummert im Grabe. Er war ein gries- grämlicher Herr, welcher schon 1842 die Einstellung solcher kaiserlichen Tagfahrten als, eine der Bedingungen seines Verbleibens am Fiuauzruder gefordert und zu¬ gestanden erhalten hatte. Sein Nachfolger Wrontscheuko ist nun auch gestorben, und Herr v. Brok hat blos die Verwesung der Finanzen zu besorgen. Europa wird also voraussichtlich czarischc Familieureisen nun wieder in gleicher Häufigkeit wie in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre zu erwarten haben. Während aber vor 18i8 bei solchen Reisegelegenheiten der allein daheimbleibende.Thron¬ folger die interimistische Regentschaft durch einen besondern Ukas übertragen bekam, scheint derartige Präcautiou jetzt nicht mehr nöthig. Der echte mitteleuropäische Patriot erschaut mit Sehnsucht die Herrlichkeit der russischen Zustände, in desto grauserem Dunkel die Trostlosigkeit der eigenen. Es muß in ihm aufflammen, wie eine Pftngstoffenbarung, daß auch Deutschlands Größe, Macht und Glückesfülle nur an Rußlands Hand, durch Rußlands Rath, unter Rußlands Einfluß aufsteigen kaun; namentlich die Freiheit und Einheit — natürlich „nicht jene materielle Einheit, von welcher eine eroberungssüchtige De¬ mokratie träumt, sondern die moralische," wie die Petersburger Circulardepesche es schon am 6. Juli 18i8 ebeu so wahr als präcis bezeichnete. Wem diese Erkenntniß nicht ersteht, für den existiren freilich solche Zeichen und Stimmen nicht. Das Bedürfniß nach.dicken und gutgesinnten Büchern über Rußland hat in neuerer Zeit ziemlich reichliche Nahrung gesunden. Unter den Gutgesinnten steht jedenfalls Herr Zaudo mit seinen „Russischen Zuständen im Jahre 1830" oben an. Vielleicht wäre das Buch auch etwas weniger unzuverlässig in seineu eigenen angeblichen Erfahrungen, vielleicht ferner etwas wieder zusammengestoppelt aus einer ganzen Reihe früher erschienenen Werke über Rußland, wenn es dickleibiger wäre. Es beweist und erklärt gar nichts; es behauptet nur, was von den Ge¬ nossen seiner Gesinnungen schon hundert Mal und zwar scharfsinniger, dialektischer aufgestellt und durchgeführt, wenn anch nicht bewiesen worden ist. Was es da¬ gegen selbstständig sagt, ist so vollkommen bedeutungslos und banal, daß selbst der bestgesiuute Deutsche darüber einzuschlafen versucht wird. Von einer Schil¬ derung russischer Zustände „im Jahr 1830" ist vollends keine Rede; der Ver¬ fasser gelangt vor vielem Reden in einem schlottrigen Deutsch überhaupt sehr ausnahmsweise zu thatsächlichen Darlegungen. Und wenn er hier und da eine neuere statistische Notiz einfügt, so kann man sie sicherlich bereits in einem deutschen Grenzboten. IV. -18L2. 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/35>, abgerufen am 02.05.2024.