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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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Zeitungsblatte von 18i9 nachweisen, gewöhnlich einem der russischen Mini-
sterialjournale entnommen. Aber allerdings gute Gesinnung findet sich genug
darin, Verachtung alles nichtrussischen öd. h. nichtgouvernementalen) Lebens und
Webens in Ueberfülle. Trotzdem glauben wir bestimmt, daß das russische Gou-
bernement solchen Freunden mit derselben Energie einen Zwangspaß nach den
Reichsgrenzen einhändigen sollte, wie dem Verblendetsten unter den entschiedenen
Gegnern seines Princips.

Das russische Gouvernement scheint jedoch diese Ansicht nicht zu theilen.
Im neuesten Index Ilororum proluditorum findet sich Herrn Zando's Product Nicht,
während Jerrmann's "Unpolitische Bilder aus Se. Petersburg" und "Nußland
und die Gegenwart" von einem Ungenannten diesem eben'so traurigen, als ge¬
rechten Loos verfielen. Bei Jerrmann's Unpolitischen Bildern begreift man eigentlich
die Entscheidungsgründe dafür nicht. Ihr Verfasser ist offenbar von den Herr¬
lichkeiten der Residenz und ihrer lnstschlvßlichen Umgebungen bezaubert, er findet
das ganze Leben und Treiben allerliebst, die Staatsverfassung und ihre Hand¬
habung im Großen, wie im Einzelnen vortrefflich, er beschreibt dies Alles in einem
anmuthigen Ton und ftanzöstrenden Jargon -- also was will man mehr? Mehr
scheint mau just auch nicht verlangt zu haben, aber desto lebhafter bisweilen etwas
Weniger gewünscht. Herr Jerrmann läßt sich nämlich vom Eifer des Erzählens
mitunter zur Mittheilung einzelner Charakterzüge und Anekdoten hinreißen, die
unsrem west-europäischen Unterthanenverstande den jedenfalls rebellischen Ausruf:
schauderhaft, entsetzlich, barbarisch, unmenschlich! entlocken. Trotz der gewandten
Tournüre seiner ganzen Schrift, fehlt ihm doch, jene Petersburger Sicherheit des
Schweigens oder Escamotirens der Thatsachen, des zweifelnden Spottlächelns über
unläugbare Vorfälle, des flüchtigen Bcseitigens anderer. Ohne es auszusprechen,
schlägt ihm manchmal eine westeuropäische Anschauung von Moral, Ehre, Gerech¬
tigkeit und dergleichen in den Nacken, und er besitzt uicht Blasirtheit genug, um uns
Europäern mit souverainen Besserwissen zu octroyiren, daß alle diese Begriffe
bei uns nur angekünstelt seien und wir daher gar kein deutbares Recht hätten,
russische Depravation, Felonie, Prostitution und dergleichen auch vom objectiv
moralischen, politischen, socialen Standpunkte für eben so schlecht als deutsche oder
französische zu halten, vollends aus den tausend und abertausend derartigen Bei¬
spielen allgemeine Schlüsse auf das Besser oder Schlechter der russischen Zustände
uns zu erlauben. Er erzählt vielmehr solche Anekdoten mit demselben unbe¬
fangenen Lächeln, womit er uns die Brillanten der Fürstin * schildert, oder den
eaux Ms des Staatsraths " an diesem und jenem Orte preisgiebt. Kurz, es
fehlen ihm die unumgänglichen LZÄrcZs und Kessaräs -- darum trifft sein Buch
die Verbannung mit demselben Rechte, wie z. B. Zumpt's Lateinische Grammatik,
Radowitz' Neue Gespräche aus der Gegenwart, Voigt's Geschichte der Schöpfung,
Weber's Geschichte der deutschen Literatur u. s. w.


Zeitungsblatte von 18i9 nachweisen, gewöhnlich einem der russischen Mini-
sterialjournale entnommen. Aber allerdings gute Gesinnung findet sich genug
darin, Verachtung alles nichtrussischen öd. h. nichtgouvernementalen) Lebens und
Webens in Ueberfülle. Trotzdem glauben wir bestimmt, daß das russische Gou-
bernement solchen Freunden mit derselben Energie einen Zwangspaß nach den
Reichsgrenzen einhändigen sollte, wie dem Verblendetsten unter den entschiedenen
Gegnern seines Princips.

Das russische Gouvernement scheint jedoch diese Ansicht nicht zu theilen.
Im neuesten Index Ilororum proluditorum findet sich Herrn Zando's Product Nicht,
während Jerrmann's „Unpolitische Bilder aus Se. Petersburg" und „Nußland
und die Gegenwart" von einem Ungenannten diesem eben'so traurigen, als ge¬
rechten Loos verfielen. Bei Jerrmann's Unpolitischen Bildern begreift man eigentlich
die Entscheidungsgründe dafür nicht. Ihr Verfasser ist offenbar von den Herr¬
lichkeiten der Residenz und ihrer lnstschlvßlichen Umgebungen bezaubert, er findet
das ganze Leben und Treiben allerliebst, die Staatsverfassung und ihre Hand¬
habung im Großen, wie im Einzelnen vortrefflich, er beschreibt dies Alles in einem
anmuthigen Ton und ftanzöstrenden Jargon — also was will man mehr? Mehr
scheint mau just auch nicht verlangt zu haben, aber desto lebhafter bisweilen etwas
Weniger gewünscht. Herr Jerrmann läßt sich nämlich vom Eifer des Erzählens
mitunter zur Mittheilung einzelner Charakterzüge und Anekdoten hinreißen, die
unsrem west-europäischen Unterthanenverstande den jedenfalls rebellischen Ausruf:
schauderhaft, entsetzlich, barbarisch, unmenschlich! entlocken. Trotz der gewandten
Tournüre seiner ganzen Schrift, fehlt ihm doch, jene Petersburger Sicherheit des
Schweigens oder Escamotirens der Thatsachen, des zweifelnden Spottlächelns über
unläugbare Vorfälle, des flüchtigen Bcseitigens anderer. Ohne es auszusprechen,
schlägt ihm manchmal eine westeuropäische Anschauung von Moral, Ehre, Gerech¬
tigkeit und dergleichen in den Nacken, und er besitzt uicht Blasirtheit genug, um uns
Europäern mit souverainen Besserwissen zu octroyiren, daß alle diese Begriffe
bei uns nur angekünstelt seien und wir daher gar kein deutbares Recht hätten,
russische Depravation, Felonie, Prostitution und dergleichen auch vom objectiv
moralischen, politischen, socialen Standpunkte für eben so schlecht als deutsche oder
französische zu halten, vollends aus den tausend und abertausend derartigen Bei¬
spielen allgemeine Schlüsse auf das Besser oder Schlechter der russischen Zustände
uns zu erlauben. Er erzählt vielmehr solche Anekdoten mit demselben unbe¬
fangenen Lächeln, womit er uns die Brillanten der Fürstin * schildert, oder den
eaux Ms des Staatsraths " an diesem und jenem Orte preisgiebt. Kurz, es
fehlen ihm die unumgänglichen LZÄrcZs und Kessaräs — darum trifft sein Buch
die Verbannung mit demselben Rechte, wie z. B. Zumpt's Lateinische Grammatik,
Radowitz' Neue Gespräche aus der Gegenwart, Voigt's Geschichte der Schöpfung,
Weber's Geschichte der deutschen Literatur u. s. w.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/36>, abgerufen am 22.05.2024.