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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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treten. Auch der Held selbst ist während seiner Schulzeit, in der ganzen Periode
seiner Entwickelung mit einer sehr liebenswürdigen Naivetät gezeichnet. Der
Briefwechsel zwischen ihm und dem alten Herrn Ratel ist vortrefflich, die drollige
Laune, treuherzige Einfalt, und das behagliche Sichgehenlassen ist meisterhaft
wiedergegeben.

Niemals vielleicht hat ein Recensent so viele Lust empfunden, einen Roman
unbarmherzig zusammenzustreichen, als der Schreiber dieser Zeilen nach der Lectüre
des armen Lammfell. Auf die Hälfte seines Umfangs reducirt, würde das Werk
eine Idylle sein, mit der sich wenige in unsrer neuesten Literatur vergleichen könnten.




Wochenbericht"
Die preußischen Kammern.

-- Berlin, 3 0. Novbr. Es ist be-
merkenswerth, daß die Rcactionspartci der diesmaligen Kammersession mit einer Besorgniß
entgegengeht, die in dem StimmenvcrlMtniß der einzelnen Fraktionen durchaus keinen
Anhalt findet. Weder dem Rundschaner noch seinen Verehrern kann es entgehen, daß
die liberale Meinung in den Kammern weniger Vertreter, als früher, zählt und daß sie
nur durch eine ganz seltene und kaum zu erwartende Constellation für diese oder jene
Frage die Oberhand gewinnen kann. Wenn die Kreuzzeitung unmittelbar nach den
Wahlen Unruhe und Unzufriedenheit verrieth, so konnte man zu der Ansicht geneigt sein,
daß sie durch ein solches Auftreten nur den Eifer ihrer Anhänger für die Nachwahlen
rege zu erhalten bezweckte; allein ihre letzten Artikel und namentlich die Rundschau
beweisen, daß sie in der That Besorgnisse hegt, die hinlänglich stark sind, ihr Programm
für jetzt einigermaßen zu modificiren. Vor den Wahlen war sie, bei ihren seltsamen
Expectorationcn über den Absolutismus, auf dem besten Wege, ihr System einer Junker¬
herrschaft ziemlich bloß zu legen; jetzt, wo sie sieht, daß die Bureaukratie numerisch
stärker ist, lenkt sie ein. Das Ständetbum gehört, wie die letzte Rundschau meint,
nicht in den Kammerkrieg; "vor Allem," erklärtste, "kommt es in der jetzt zu
eröffnenden Kammersitzung darauf an, daß' wir wesentlich und unerschütterlich zur
Regierung stehen." ... "Es versteht sich von selbst, daß wir mit dem Stehen
zur Regierung keine Verläugnung unsres politischen und Partei-Charakters oder
irgend einer Wahrheit empfehlen."... Aber "der Dissensus von Freunden muß niemals,
auch nicht auf Augenblicke, mit der Feindschaft von Gegnern verwechselt werden können,
und jeder häusliche Zwist zwischen der Regierung und uns muß vertagt werden oder
als Nebensache zurücktreten, bis die Linken -- im weitesten Sinne des Worts, aus
dem Felde geschlagen sind." Das sind die Hauptsätze, welche die momentane Schwen¬
kung motiviren sollen; man war etwas zu weit vorgegangen, und zieht sich jetzt wieder
in eine Position zurück, die fester erscheint. Aber bei der Natur der Vorlagen, die
dieses Mal zur Berathung kommen sollen, ist nicht vorauszusetzen, daß die Kreuz¬
zeitungspartei diesem Programme überall wird folgen können; es ist vielmehr Grund zu
der Annahme vorhanden, daß sie durch eine solche Taktik, die unter der Firma einer
"Stärkung der königlichen Autorität" lediglich zu einer Stärkung der Bcamtenherrschaft


treten. Auch der Held selbst ist während seiner Schulzeit, in der ganzen Periode
seiner Entwickelung mit einer sehr liebenswürdigen Naivetät gezeichnet. Der
Briefwechsel zwischen ihm und dem alten Herrn Ratel ist vortrefflich, die drollige
Laune, treuherzige Einfalt, und das behagliche Sichgehenlassen ist meisterhaft
wiedergegeben.

Niemals vielleicht hat ein Recensent so viele Lust empfunden, einen Roman
unbarmherzig zusammenzustreichen, als der Schreiber dieser Zeilen nach der Lectüre
des armen Lammfell. Auf die Hälfte seines Umfangs reducirt, würde das Werk
eine Idylle sein, mit der sich wenige in unsrer neuesten Literatur vergleichen könnten.




Wochenbericht»
Die preußischen Kammern.

— Berlin, 3 0. Novbr. Es ist be-
merkenswerth, daß die Rcactionspartci der diesmaligen Kammersession mit einer Besorgniß
entgegengeht, die in dem StimmenvcrlMtniß der einzelnen Fraktionen durchaus keinen
Anhalt findet. Weder dem Rundschaner noch seinen Verehrern kann es entgehen, daß
die liberale Meinung in den Kammern weniger Vertreter, als früher, zählt und daß sie
nur durch eine ganz seltene und kaum zu erwartende Constellation für diese oder jene
Frage die Oberhand gewinnen kann. Wenn die Kreuzzeitung unmittelbar nach den
Wahlen Unruhe und Unzufriedenheit verrieth, so konnte man zu der Ansicht geneigt sein,
daß sie durch ein solches Auftreten nur den Eifer ihrer Anhänger für die Nachwahlen
rege zu erhalten bezweckte; allein ihre letzten Artikel und namentlich die Rundschau
beweisen, daß sie in der That Besorgnisse hegt, die hinlänglich stark sind, ihr Programm
für jetzt einigermaßen zu modificiren. Vor den Wahlen war sie, bei ihren seltsamen
Expectorationcn über den Absolutismus, auf dem besten Wege, ihr System einer Junker¬
herrschaft ziemlich bloß zu legen; jetzt, wo sie sieht, daß die Bureaukratie numerisch
stärker ist, lenkt sie ein. Das Ständetbum gehört, wie die letzte Rundschau meint,
nicht in den Kammerkrieg; „vor Allem," erklärtste, „kommt es in der jetzt zu
eröffnenden Kammersitzung darauf an, daß' wir wesentlich und unerschütterlich zur
Regierung stehen." ... „Es versteht sich von selbst, daß wir mit dem Stehen
zur Regierung keine Verläugnung unsres politischen und Partei-Charakters oder
irgend einer Wahrheit empfehlen."... Aber „der Dissensus von Freunden muß niemals,
auch nicht auf Augenblicke, mit der Feindschaft von Gegnern verwechselt werden können,
und jeder häusliche Zwist zwischen der Regierung und uns muß vertagt werden oder
als Nebensache zurücktreten, bis die Linken — im weitesten Sinne des Worts, aus
dem Felde geschlagen sind." Das sind die Hauptsätze, welche die momentane Schwen¬
kung motiviren sollen; man war etwas zu weit vorgegangen, und zieht sich jetzt wieder
in eine Position zurück, die fester erscheint. Aber bei der Natur der Vorlagen, die
dieses Mal zur Berathung kommen sollen, ist nicht vorauszusetzen, daß die Kreuz¬
zeitungspartei diesem Programme überall wird folgen können; es ist vielmehr Grund zu
der Annahme vorhanden, daß sie durch eine solche Taktik, die unter der Firma einer
„Stärkung der königlichen Autorität" lediglich zu einer Stärkung der Bcamtenherrschaft


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/439>, abgerufen am 02.05.2024.