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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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hätte der Verfasser leicht beseitigen können, wenn er auf die Form größern
Werth gelegt hätte; in seiner Vorliebe für passive Constructionen nimmt er an
Wendungen wie: "daß sie vertrieben werden werden" keinen Anstoß. Alle
solche Absonderlichkeiten würden indeß, selbst wenn sie zahlreicher wären, relativ
zu unbedeutend erscheinen, als daß man sich nicht gern um des gewaltigen In¬
halts willen über sie hinwegsetzen sollte; auch haben sie nicht gehindert, daß
das Werk reich ist an Stellen von hinreißender Kraft. Und so wünschen wir
lebhaft, daß das Buch bald ein Eigenthum der deutschen Nation werden, daß
sie es denkend genießen, in sich verarbeiten und seine Lehren in ihre politischen
Mariner aufnehmen möge, damit der "ghibellinische Gedanke künftighin nicht
blos in politischer Nacht hin und wieder wie ein Irrlicht aufflackere, sondern
zu einer reinen und beständigen Flamme sich verkläre.




Aus den Zeltender neuesten deutschen Theologie.

Die Theologie, welche noch vor zehn Jahren in allen specifisch christlichen
Kreisen allgemein als tonangebend galt, war die schleicrmachersche. Ihr ge¬
nialer Begründer hatte aber von Anfang an mit zwei widerstrebenden Mächten
zu kämpfen: mit der reinen Philosophie und mit dem historisch begründeten
Recht der Confessionskirchen, und beide sind es auch gewesen, welche seiner
Herrschaft endlich ein Ziel gesetzt haben. Hegel, als er der Religion den Platz
unter der Philosophie anwies, hatte unter Religion zunächst nichts Anderes
im Sinne, als das durch Schleiermacher formulirte Christenthum, und inso¬
weit wird er für alle Zeiten Recht behalten. Schleiermacher wußte selbst am
besten, daß sein System gemeint sei; die Ueberlegenheit seines Gegners war
ihm drückend, und wo er hegelschen Einfluß wahrnahm, selbst nach dem Tode
des großen Denkers, da konnte der sonst so humane, freundliche und sanfte
Mann höchst aufgeregt und bitter werden. Mit dem Hauptvertreter der ab¬
soluten Philosophie konnte er nur insoweit wetteifern, als er sich von den
Fesseln der Dogmatik zu befreien vermochte, und das gelang ihm höchstens
zur Hälfte. -- Andrerseits war der historische Sinn nur schwach bei ihm ent¬
wickelt. Daraus allein erklärt es sich, wie er bei der Bibel das durch geschicht¬
liche Ideen so innig verkettete alte und neue Testament auseinanderreißen
konnte, und daraus erklärt sich ferner die Stellung, welche er den Confessions-
kirchen gegenüber einnahm, deren alleiniges Recht und Bewußtsein eben in
geschichtlicher Tradition wurzelt. Von solchem Standorte aus entstand durch
ihn und seine Gesinnungsgenossen, unter der Aegide eines religiösen Monarchen,
die preußische Union, ein aus Gefühlstheologie und moderner Bildung auf-


hätte der Verfasser leicht beseitigen können, wenn er auf die Form größern
Werth gelegt hätte; in seiner Vorliebe für passive Constructionen nimmt er an
Wendungen wie: „daß sie vertrieben werden werden" keinen Anstoß. Alle
solche Absonderlichkeiten würden indeß, selbst wenn sie zahlreicher wären, relativ
zu unbedeutend erscheinen, als daß man sich nicht gern um des gewaltigen In¬
halts willen über sie hinwegsetzen sollte; auch haben sie nicht gehindert, daß
das Werk reich ist an Stellen von hinreißender Kraft. Und so wünschen wir
lebhaft, daß das Buch bald ein Eigenthum der deutschen Nation werden, daß
sie es denkend genießen, in sich verarbeiten und seine Lehren in ihre politischen
Mariner aufnehmen möge, damit der „ghibellinische Gedanke künftighin nicht
blos in politischer Nacht hin und wieder wie ein Irrlicht aufflackere, sondern
zu einer reinen und beständigen Flamme sich verkläre.




Aus den Zeltender neuesten deutschen Theologie.

Die Theologie, welche noch vor zehn Jahren in allen specifisch christlichen
Kreisen allgemein als tonangebend galt, war die schleicrmachersche. Ihr ge¬
nialer Begründer hatte aber von Anfang an mit zwei widerstrebenden Mächten
zu kämpfen: mit der reinen Philosophie und mit dem historisch begründeten
Recht der Confessionskirchen, und beide sind es auch gewesen, welche seiner
Herrschaft endlich ein Ziel gesetzt haben. Hegel, als er der Religion den Platz
unter der Philosophie anwies, hatte unter Religion zunächst nichts Anderes
im Sinne, als das durch Schleiermacher formulirte Christenthum, und inso¬
weit wird er für alle Zeiten Recht behalten. Schleiermacher wußte selbst am
besten, daß sein System gemeint sei; die Ueberlegenheit seines Gegners war
ihm drückend, und wo er hegelschen Einfluß wahrnahm, selbst nach dem Tode
des großen Denkers, da konnte der sonst so humane, freundliche und sanfte
Mann höchst aufgeregt und bitter werden. Mit dem Hauptvertreter der ab¬
soluten Philosophie konnte er nur insoweit wetteifern, als er sich von den
Fesseln der Dogmatik zu befreien vermochte, und das gelang ihm höchstens
zur Hälfte. — Andrerseits war der historische Sinn nur schwach bei ihm ent¬
wickelt. Daraus allein erklärt es sich, wie er bei der Bibel das durch geschicht¬
liche Ideen so innig verkettete alte und neue Testament auseinanderreißen
konnte, und daraus erklärt sich ferner die Stellung, welche er den Confessions-
kirchen gegenüber einnahm, deren alleiniges Recht und Bewußtsein eben in
geschichtlicher Tradition wurzelt. Von solchem Standorte aus entstand durch
ihn und seine Gesinnungsgenossen, unter der Aegide eines religiösen Monarchen,
die preußische Union, ein aus Gefühlstheologie und moderner Bildung auf-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/418>, abgerufen am 28.04.2024.